Читать онлайн книгу "Eine Spur von Verbrechen"

Eine Spur von Verbrechen
Blake Pierce


Keri Locke Mystery #4
Eine dynamische Story, die Sie vom ersten Kapitel an fesselt und nicht mehr loslässt. –Midwest Book Review, Diane Donovan (über Once Gone) Mystery und Spannung im neuen Meisterwerk vom Nr. 1 Bestseller-Autor Blake Pierce. In EINE SPUR VON VERBRECHEN (Buch 4 in der Keri Locke Mystery-Serie) verfolgt Keri Locke, Detective bei der Einheit für Vermisste Personen im LAPD, eine frische Spur, die sie zu ihrer entführten Tochter führen kann. Sie schlägt sich durch eine verworrene Unterwelt und kommt dem Ziel ihrer Suche Schritt für Schritt näher. Doch sie arbeitet gegen die Zeit, denn ihr wird gleichzeitig ein neuer Fall zugeteilt: Ein Mann aus gehobenen Kreisen bittet sie um Hilfe, denn seine Tochter ist auf dem Heimweg von der Schule scheinbar spurlos verschwunden. Kurz darauf taucht eine Lösegeldforderung auf. Die rätselhafte Nachricht lässt keinen Zweifel daran, dass sie nicht mehr viel Zeit haben, das Mädchen zu retten. Gleichzeitig wird klar, dass sie es mit einem teuflischen Mörder zu tun haben, der alle in sein tödliches Spiel verwickelt. Keri und die anderen Polizisten stehen vor einer schwierigen Aufgabe: Sie müssen die Forderungen des Erpressers entschlüsseln, seine Spuren entdecken und ihn überlisten, bevor es zu spät ist. Doch in diesem mörderischen Schachspiel stößt Keri an die Grenzen ihrer Fähigkeiten und es scheint, als käme jede Hilfe für das verschwundene Mädchen – und ebenso für ihre eigene Tochter – am Ende doch zu spät. Ein düsterer Psychothriller voller Spannung und Herzklopfen. EINE SPUR VON VERBRECHEN ist Buch 4 der fesselnden neuen Serie – mit einer liebenswerten Hauptperson und dem Potenzial, Sie bis tief in die Nacht hinein wach zu halten. Ein Meisterwerk von Thriller! Der Autor erschafft gekonnt die Charaktere und deren Psyche und beschreibt sie so gut, dass man sich direkt in ihrer Gedankenwelt wiederfindet, ihre Ängste miterlebt und auf ein Happy End hofft. Der intelligente Plot wird Sie bestens unterhalten und mit seinen unerwarteten Wendungen bis zur letzten Seite fesseln. Buch- und Filmkritiker, Roberto Mattos (über Once Gone) Buch 5 der Keri Locke-Reihe wird auch bald erhältlich sein.





Blake Pierce

Eine Spur von Verbrechen. Keri Locke Mystery 4




Blake Pierce

Blake Pierce ist der Autor der elfteiligen RILEY PAGE Mystery-Bestsellerserie (Fortsetzung in Arbeit). Blake Pierce hat auГџerdem die MACKENZIE WHITE Mystery-Serie, bestehend aus fГјnf BГјchern (Fortsetzung in Arbeit), die AVERY BLACK Mystery-Serie, bestehend aus fГјnf BГјchern (Fortsetzung in Arbeit) und die KERI LOCKE Mystery-Serie geschrieben.

Der leidenschaftliche Leser und langjährige Fan von Mystery und Thriller-Romanen Blake Pierce freut sich, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie www.blakepierceauthor.com (http://www.blakepierceauthor.com/) für weitere Infos.



Copyright © 2016 Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Außer durch Genehmigung gemäß U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieses Buches ohne ausdrückliche Genehmigung des Autors vervielfältigt, vertrieben oder in irgendeiner Form übermittelt oder in Datenbanken oder Abfragesystemen gespeichert werden. Dieses E-Book ist nur für ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Es darf nicht weiterverkauft oder an Dritte weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit anderen teilen möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen, aber nicht gekauft haben, oder es nicht für Sie gekauft wurde, geben Sie es bitte zurück und erwerben Sie eine eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit des Autors respektieren. Dieses Buch ist Fiktion. Namen, Figuren, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind vom Autor frei erfunden oder werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeiten mit echten Personen, lebendig oder verstorben, sind zufällig. Jacket Image Copyright PhotographyByMK, unter der Lizenz von Shutterstock.com.



BГњCHER VON BLAKE PIERCE



RILEY PAIGE KRIMI SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKГ–DERT (Band #4)

GEJAGT (Band #5)

VERZEHRT (Band #6)

VERLASSEN (Band #7)

ERKALTET (Band #8)



MACKENZIE WHITE KRIMI SERIE

BEVOR ER TГ–TET (Band #1)

BEVOR ER SIEHT (Band #2)

BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)

BEVOR ER NIMMT (Band #4)

BEVOR ER BRAUCHT (Band #5)



AVERY BLACK KRIMI SERIE

GRUND ZU TГ–TEN (Band #1)

GRUND ZU FLГњCHTEN (Band #2)

GRUND ZU VERSTECKEN (Band #3)

GRUND ZU FГњRCHTEN (Band #4)



KERI LOCKE MYSTERY SERIE

EINE SPUR VON TOD (Buch #1)

EINE SPUR VON MORD (Buch #2)

EINE SPUR VON SCHWГ„CHE (Buch #3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (Buch #4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (Buch #5)




PROLOG


Carolyn Rainey spürte, dass etwas nicht stimmte. Sie konnte das Gefühl nicht erklären, aber als sie die lange Straße entlangging, auf der sie gewöhnlich ihre zwölfjährige Tochter traf, machte sich ein merkwürdiges Kribbeln in ihrem Nacken breit.

Auf den ersten Blick schien alles wie immer zu sein. Carolyn machte sich jeden Tag um 14:30 Uhr auf den Weg zu ihrer Tochter Jessica. Sie genoss den kurzen Spaziergang, weil sie ein paar Minuten hatte, um den Kopf frei zu bekommen und die zweite Hälfte des Tages einzuläuten.

Die Playa del Rey Middle School entlieГџ die Kinder um 2:35 nachmittags und Jessica fuhr ihr mit dem Fahrrad entgegen. Bis sie ihre Sachen eingepackt, sich von ihren Freundinnen verabschiedet und zu ihrem Fahrrad begeben hatte, war es meistens 2:45.

Meist trafen Mutter und Tochter sich gegen 2:50 auf halbem Weg zwischen der Schule und ihrem Haus. Den Rest der Strecke legten sie dann zusammen zurГјck, Carolyn zu FuГџ und ihre Tochter im Schritttempo auf dem Fahrrad. Hin und wieder wГјrde sie ihre Mutter lachend umkreisen.

Sie würde ihr alles von ihrem Tag in der Schule erzählen: Wer in wen verknallt war, welcher Lehrer versehentlich geflucht hatte und welche Lieder sie im Chor gesungen hatten. Zu Hause stand schon ein kleiner Snack bereit, nach dem sich Jessica auf ihre Hausaufgaben und Carolyn auf ihre Arbeit konzentrieren würde. So oder so  ähnlich liefen die Nachmittage bei ihnen ab.

Aber heute war Carolyn schon bedeutend weiter gelaufen als sonst. Es war schon fast 3 Uhr und bald würde sie bei der Schule ankommen. Eigentlich hätte sie Jessica schon längst treffen müssen.

Vielleicht war sie noch einmal auf die Toilette gegangen. Oder Kyle, der sГјГџe Typ aus ihrem Englischkurs, hatte sie angesprochen. Doch das Kribbeln in ihrem Nacken sagte ihr, dass etwas anderes geschehen war.

Als sie um die nächste Kurve bog, sah sie, dass sie Recht behalten sollte. Jessicas lilafarbenes Fahrrad, auf dem ein paar Aufkleber von der neuen Die Schöne und das Biest Verfilmung und von ihren Lieblingssängerinnen Selena Gomez und Zara Larsson klebten, lag am Straßenrand.

Carolyn rannte hinГјber und starrte es an. Angst machte sich in ihr breit. Verzweifelt sah sie sich um. In einem GebГјsch nur wenige Meter weiter fiel ihr etwas auf. Schnell ging sie hin und zog an den Г„sten. Als einer der Г„ste nachgab, fiel es ihr entgegen.

Sie konnte kaum glauben, was sie sah. Jessicas Rucksack. Carolyns Beine gaben plötzlich nach. Sie sank auf die Knie. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Dann wurde ihr klar, dass ihre Tochter verschwunden war.




KAPITEL EINS


Detective Keri Locke war frustriert. Sie saГџ an ihrem Schreibtisch in der West Los Angeles Pacific Einheit des LAPD und starrte den Bildschirm ihres Computers an.

Um sie herum herrschte das übliche geschäftige Treiben. Zwei Teenager hatten eine Handtasche gestohlen und waren auf der Flucht mit ihren Skateboards gefasst worden. Eine ältere Dame an einem der Nachbartische erklärte einem geduldigen Officer, dass ihre Tageszeitung zum wiederholten Male aus ihrem Vorgarten geklaut worden war. Zwei dickliche Typen saßen in Handschellen auf einer Holzbank an der gegenüberliegenden Wand, weil sie sich in einer Kneipe geschlagen hatten und offenbar versuchten, ihren Kampf hier fortzusetzen. Keri ignorierte sie alle.

Seit zwanzig Minuten studierte sie die Kleinanzeigen einer Tageszeitung in der Kategorie Gemischte Gesuche. Seit sechs Wochen las sie täglich diese Anzeigen, seit ihre Freundin Margaret „Mags“ Merrywether ihr den Tipp gegeben hatte, dass sie dort vielleicht einen Hinweis finden würde, der sie zu ihrer verschwundenen Tochter Evie führen könnte.

Evie war vor über fünf Jahren entführt worden. Nach einer unerbittlichen, aber meist ergebnislosen Suche, hatte Keri sie gefunden, doch man hatte sie ihr ein zweites Mal entrissen. Der bloße Gedanke daran, wie Evie in dem schwarzen Van fortgebracht worden und womöglich für immer verloren war, war einfach zu viel. Schnell schüttelte sie den Gedanken ab und konzentrierte sich wieder auf das, was vor ihr lag. Es ging schließlich um eine mögliche Spur. Und eine Spur brauchte sie unbedingt.

Ende November hatte Mags versucht, mit diesem geheimnisvollen Mann in Kontakt zu treten, der sich Schwarzer Witwer nennt. Er war bekannt dafür, dass er die Drecksarbeit für die Reichen und Mächtigen verrichtete. Er brachte politische Feinde zum Schweigen, ließ aufdringliche Reporter verschwinden oder beschaffte besonders vertrauliche Materialien.

In diesem Fall vermutete Keri, dass er entweder ihre Tochter in seiner Gewalt hatte, oder zumindest wusste, wo sie sich befand. Denn vor sechs Wochen hatte Keri den Mann ausfindig gemacht, der Evie all die Jahre gefangen gehalten hatte. Es handelte sich dabei um einen professionellen Entführer, der unter dem Decknamen der Sammler bekannt war. Keri wusste inzwischen, dass sein echter Name Brian Wickwire war. Bei ihrem Zusammentreffen war es zu einem Kampf auf Leben und Tod gekommen, in dem Keri ihn schließlich getötet hatte.

Als sie später sein Appartment durchsucht hatte, waren ihr Informationen in die Hände gefallen, dank derer sie Evie ausfindig machen konnte. Doch gerade als sie dort eingetroffen war, hatte sie gesehen, wie ein älterer Mann das Mädchen in einen schwarzen Van gedrängt hatte. Sie hatte nach ihrer Tochter gerufen, die inzwischen dreizehn Jahre alt war, und sie hatte gehört, wie ihre Tochter das Wort Mama gesagt hatte.

Doch dann hatte der Mann Keris Auto gerammt und war mit Evie entkommen. Benommen hatte Keri zusehen mГјssen, wie ihre Tochter zum zweiten Mal vor ihren Augen entfГјhrt wurde. Noch in der gleichen Nacht hatte man den Van auf einem leeren Parkplatz gefunden. Der Mann war mit einem Kopfschuss hingerichtet worden. Von Evie fehlte jede Spur.

Wochenlang hatte das Department in jede erdenkliche Richtung ermittelt und überall nach ihr gesucht. Doch sie fanden nichts als Sackgassen. Irgendwann mussten sie sich wieder auf andere Fälle konzentrieren.

Letzten Endes war es Mags gewesen, die eine frische Spur ausgraben konnte. Mags sah zwar aus wie das Titelmodell eines High Society Magazins, aber eigentlich war sie eine knallharte Enthüllungsjournalistin. Sie hatte Parallelen entdeckt zwischen Evies Verschwinden und einem Fall, an dem sie vor Jahren gearbeitet hatte. So war sie auf den Schwarzen Witwer gekommen. Nächtliche Hinrichtungen per Kopfschuss auf leeren Parkplätzen waren eine Art Markenzeichen. Außerdem wussten sie über ihn, dass er einen nicht-registrierten Lincoln Continental fuhr, und genau so einen hatte die Überwachungskamera des Parkplatzes aufgezeichnet.

So hatte Mags auf einen anonymen Tipp hin eine verschlüsselte Nachricht an den Schwarzen Witwer gesendet – und zwar über die Kleinanzeigen der Tageszeitung. Das war scheinbar seine bevorzugte Methode, um mit potenziellen Kunden in Kontakt zu treten.

Zu ihrer Überraschung hatte er fast unverzüglich geantwortet. Er würde sich bald darum kümmern, dass sie alles Nötige besprechen konnten. Bis dahin sollte sie sich eine neue E-Mail Adresse zulegen.

Seitdem hatte sie leider nichts mehr von ihm gehört. Mags hatte vor drei Wochen noch ein zweites Mal versucht, ihn zu erreichen, aber sie hatte keine Antwort mehr bekommen. Keri wollte, dass sie es noch einmal versuchte, aber Mags hielt das für eine schlechte Idee. Wenn sie ihn unter Druck setzten, würde er einfach komplett abtauchen. Auch wenn es frustrierend war, mussten sie abwarten, dass er sich meldete.

Keri machte sich jedoch Sorgen, dass er das vielleicht nie wieder tun wГјrde. Als sie jetzt zum dritten Mal die Kleinanzeigen Гјberflog, ging ihr durch den Kopf, wie sich diese zuerst so vielversprechende Spur langsam in eine weitere Sackgasse verwandelte.

Sie schloss die Webseite, schloss die Augen und atmete ein paarmal tief durch. Um gegen die Hoffnungslosigkeit anzukommen, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Manchmal half genau das, um plötzlich Zusammenhänge zu sehen, die ihr vorher entgangen waren.

Es muss einen Hinweis geben. Was habe ich Гјbersehen? Es ist da, ich muss es nur erkennen.

Aber sie kam nicht weiter. Ihre Gedanken kreisten um den Schwarzen Witwer. Niemand wusste, wer er wirklich war. Niemand wusste, wo man ihn finden kann.

Vor einiger Zeit hatte sie das Gleiche über den Sammler gedacht. Dennoch war es ihr gelungen, ihn aufzuspüren, ihn zu töten und die nötigen Informationen zu finden, die sie zu ihrer Tochter geführt hatte. Wenn sie es einmal geschafft hatte, würde sie es auch ein zweites Mal schaffen.

Vielleicht sollte ich mir noch einmal die E-Mails und die Wohnung des Sammlers ansehen. Vielleicht habe ich dort etwas Гјbersehen.

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass der Sammler und der Schwarze Witwer in derselben Unterwelt tätig waren. Beide boten ihren Kunden kriminelle Dienste an. Der eine war ein Kidnapper und der andere ein Auftragskiller. Es war nicht ausgeschlossen, dass sich ihre Wege irgendwann gekreuzt hatten. Vielleicht gab es beim Sammler tatsächlich irgendwelche Hinweise zu finden.

Plötzlich fiel ihr auf, dass es noch einen weiteren Zusammenhang gab. Beide kannten einen gewissen gut betuchten Strafverteidiger namens Jackson Cave.

Die meisten Leute kannten Cave als semi-prominenten Rechtsanwalt, aber Keri hatte eine andere Seite an ihm gesehen: einen zwielichtigen Dealmaker, der den Гјbelsten Abschaum der Gesellschaft verteidigte und hinter den Kulissen aus Zwangsprostitution, Drogenhandel und Mord Profite schlug. Leider konnte Keri ihm nichts beweisen, weil sie selbst ein paar Geheimnisse zu hГјten hatte.

Dass Cave mit beiden Männern bekannt war, lag allerdings auch ohne Beweise auf der Hand. Das wiederum würde vermuten lassen, dass sie sich wirklich gekannt hatten. Auch wenn es nicht viel war, würde es sich doch lohnen, noch einmal genauer hinzusehen. Sie brauchte irgendetwas, um nicht durchzudrehen.

Gerade als sie in den Lagerraum fГјr Beweismittel gehen wollte, um noch einmal Wickwires Sachen durchzugehen, kam ihr Partner Ray Sands an ihren Tisch.

„Ich habe gerade Lieutenant Hillman im Aufenthaltsraum getroffen“, sagte er, „wir haben einen neuen Fall. Ich werde dir alle Informationen unterwegs geben. Können wir sofort los? Du siehst aus, als hättest du gerade etwas vorgehabt.“

„Nur ein paar Nachforschungen“, antwortete sie und schaltete ihren Computer aus. „Aber das kann auch noch etwas warten. Fahren wir.“

Ray sah sie neugierig an. Er hatte gemerkt, dass sie ihm etwas verheimlichte. Das war ihr klar. Aber er sagte nichts mehr dazu und so stand sie auf und verlieГџ mit ihm zusammen das Revier.


*

Keri und Ray gehörten zur Einheit für Vermisste Personen bei der West Los Angeles Division. Es war eine der angesehensten Einheiten des LAPD und sie und Ray waren der Hauptgrund dafür. Sie hatten in den vergangenen achtzehn Monaten mehr Fälle gelöst, als die meisten anderen Einheiten in drei Jahren.

Leider hatte Keri auch den Ruf etwas verrückt zu sein, und ebenso viele Probleme zu verursachen wie zu lösen. Technisch gesehen wurde derzeit noch gegen sie ermittelt, weil ihre Begegnung mit dem Sammler nicht gerade nach Vorschrift abgelaufen war. Aber angeblich handelte es sich bei den Untersuchungen nur um eine Formalität, um die sich polizeiintern gekümmert werden musste. Trotzdem fühlte sie sich, als würde diese Geschichte wie eine dunkle Wolke über ihr schweben.

Obwohl man ihre Methoden hin und wieder in Frage stellen konnte, sprachen die Ergebnisse ihrer Ermittlungen fГјr sich. Ray und Keri waren die Besten der Besten, auch wenn sie gerade privat ein paar Herausforderungen zu meistern hatten.

Keri beschloss, jetzt nicht darüber nachzudenken. Sie konnte sich schließlich nicht gleichzeitig auf eine Vermisstenmeldung und auf ihre private Beziehung zu Ray konzentrieren.  Als sie im Auto saßen, erzählte er ihr alles über den neuen Fall. Sie sah aus dem Seitenfenster, um seine starken, dunklen Hände, die das Lenkrad hielten, nicht im Blickfeld zu haben.

„Unser potenzielles Opfer heißt Jessica Rainey“, sagte Ray. „Sie ist zwölf Jahre alt und lebt in Playa del Rey. Ihre Mutter trifft sie normalerweise auf dem Fahrradweg nach der Schule, aber heute hat sie nur das Fahrrad am Straßenrand und ihren Rucksack in einem Gebüsch gefunden.“

„Was wissen wir über die Eltern?“, fragte Keri, als sie den Culver Boulevard entlang fuhren. Zufällig wohnte sie auch ganz in der Nähe. Erfahrungsgemäß konnte Entfremdung eine wichtige Rolle spielen. In gut der Hälfte aller Fälle von vermissten Kindern hatte ein Elternteil das Kind entführt.

„Nicht viel“, sagte Ray und lenkte das Auto geschmeidig durch den Stadtverkehr. Es war Anfang Januar und draußen war es kalt, aber Keri bemerkte Schweißperlen auf Rays Stirn. Er war nervös. Doch bevor Keri der Sache nachgehen konnte, redete er weiter.

„Verheiratet, Mutter arbeitet von zu Hause aus. Sie entwirft Hochzeitseinladungen. Der Vater arbeitet in Silicon Beach für eine IT-Firma. Sie haben auch einen jüngeren Sohn, er ist sechs Jahre alt. Er ist heute den ganzen Nachmittag in der Hausaufgabenbetreuung. Die Mutter hat dort angerufen um sicherzugehen, dass dort alles in Ordnung ist. Hillman hat ihr geraten, ihn vorerst noch dort zu lassen, damit für ihn alles so lange wie möglich normal bleibt.“

„Klingt soweit alles ganz normal“, kommentierte Keri. „Ist die Spurensicherung schon unterwegs?“

„Ja, Hillman hat sie informiert. Vielleicht sind sie schon vor Ort und untersuchen Fahrrad und Rucksack auf Fingerabdrücke.“

Ray passierte gerade die Kreuzung bei Jefferson Boulevard. Keri konnte ihr Appartement fast schon sehen. Der Strand war nur noch eine halbe Meile entfernt. Das Haus der Raineys lag in einem angesagten Gebiet des Stadtteils in den HГјgeln. Keine fГјnf Minuten von dort befanden sich mehrere Multimillionen-Dollar Villen.

Keri bemerkte, dass Ray ungewöhnlich still geworden war. Sie wusste, dass er Anlauf nahm, etwas Unangenehmes anzusprechen. Ohne zu wissen warum, fürchtete sie sich davor.

Sie kannte Ray Sands seit mehr als sieben Jahren, noch bevor Evie entfГјhrt worden war. Damals hatte sie als Professorin fГјr Kriminologie an der Loyola Marymount University gearbeitet und er war als Gastredner in ihrem Kurs gekommen.

Als Keris Leben nach der Entführung ihrer Tochter auseinanderzufallen begann, war er für sie da gewesen – als ermittelnder Detective und auch als Freund. Er stand ihr zur Seite, als sie sich von ihrem Mann scheiden ließ und als ihre Karriere den Bach hinunterging. Ray hatte sie damals überzeugt, Polizistin zu werden. Nach zwei Jahren Streifendienst kam sie dann zur Einheit für Vermisste Personen und Ray wurde ihr Partner.

Mit der Zeit waren sie sich näher gekommen. Vielleicht lag es an ihrer lockeren Art miteinander zu flirten. Vielleicht lag es daran, dass sie sich mehrmals gegenseitig das Leben gerettet hatten. Vielleicht lag es einfach an der besonderen Anziehungskraft zwischen ihnen. Irgendwann war ihr aufgefallen, dass Ray, der schon immer beliebt bei den Frauen gewesen war, aufgehört hatte, über seine weiblichen Bekanntschaften zu sprechen.

In den letzten Monaten hatten sie immer mehr Zeit miteinander verbracht. Sie besuchten sich gegenseitig nach Feierabend, sie gingen zusammen ins Restaurant, sie riefen sich gegenseitig an, wenn es Dinge zu besprechen gab, die nichts mit der Arbeit zu tun hatten. Es war fast, als wären sie ein Paar; in fast jeder Hinsicht. Sie hatten bisher nie den letzten entscheidenden Schritt gewagt, um ihre Beziehung zu besiegeln. Sie hatten sich noch nicht einmal geküsst.

Warum will ich nicht, dass er es sagt?

Keri war gerne mit Ray zusammen und ein Teil von ihr wollte mehr von ihrer Beziehung. Sie fühlte sich ihm so nah, dass es beinahe komisch war, dass nichts zwischen ihnen passierte. Dennoch fürchtete sie sich vor dem nächsten Schritt, auch wenn sie den Grund dafür nicht in Worte fassen konnte. Jetzt spürte sie, dass Ray kurz davor war, diese unsichtbare Schwelle zu überschreiten.

„Kann ich dich etwas fragen?“, begann er, als er in Pershing Drive einbog. Diese Straße würde sie bis in die reiche Gegend von Playa del Rey bringen.

„Okay.“

Bitte tu es nicht. Das wird alles ruinieren.

„Du stehst mir so nahe, wie kein anderer auf dieser Welt“, sagte er sanft. „Und ich habe den Eindruck, dass es dir mit mir nicht anders geht. Habe ich recht?“

„Ja.“

Fahr doch etwas schneller, wir sind fast da. Ich muss aus diesem Auto raus.

„Aber wir haben nichts in diese Richtung unternommen“, sagte er.

„Wohl nicht“, murmelte sie unsicher.

„Ich möchte das gerne ändern.“

„M-hm.“

„Ich bitte dich hiermit ganz offiziell um ein Date, Keri. Ich will am Wochenende gerne mit dir ausgehen. Würdest du mit mir zu Abend essen?“

Sie antwortete nicht sofort. Als sie schlieГџlich den Mund Г¶ffnete, um etwas zu sagen, war sie selbst nicht sicher, was es war.

„Besser nicht, Ray. Aber danke für die Einladung.“

Ray starrte geradeaus auf die StraГџe. Sein Mund stand ein bisschen offen, aber er sagte nichts.

Auch Keri war erstaunt von ihrer Antwort und kämpfte schweigend gegen den Drang an, aus dem fahrenden Auto zu springen.




KAPITEL ZWEI


Ohne noch ein Wort zu wechseln bogen sie von Pershing Drive in Rees Street ein und fuhren den steilen HГјgel hinauf, bis sie Ridge Avenue erreichten. Keri sah den Transporter der Spurensicherung vor einem groГџen Haus stehen.

„Ich sehe die Spurensicherung“, sagte sie tumb, um endlich das Schweigen zu brechen.

Ray nickte und parkte den Wagen hinter dem Transporter. Sie stiegen aus und gingen zum Haus. Keri fummelte an ihrem PistolengГјrtel herum, um Ray ein paar Meter Vorsprung zu geben. Sie spГјrte, dass er nicht in der Stimmung war, Seite an Seite mit ihr zu erscheinen.

Während sie hinter ihm ging, bestaunte sie wieder einmal, wie beeindruckend seine Statur war. Ray, ein einundvierzig Jahre alter Afro-Amerikaner, war über ein Meter neunzig groß, wog bestimmt 100 Kilo und hatte einen Glatzkopf. Früher hatte er als professioneller Boxer sein Geld verdient.

Er sah immer noch aus, als wäre er fit für den Ring, trotz aller Herausforderungen, denen er sich seit dem Ende seiner sportlichen Karriere stellen musste: das Ende seiner Ehe, das neue Leben mit einem Auge aus Glas, die Schussverletzung. Er war stark bemuskelt, aber nicht übergewichtig, und gleichzeitig überraschend galant für einen Mann seiner Größe. Kein Wunder, dass er so beliebt bei den Frauen war.

Ein paar Monate zuvor hätte sie sich vielleicht gewundert, warum er sich für sie interessierte. Aber in letzter Zeit hatte sie, obwohl sie fast sechsunddreißig war, wieder den jugendlichen Elan zurückgewonnen, der ihr auch früher schon Bewunderung vom anderen Geschlecht eingebracht hatte.

Sie würde nie ein Supermodel werden, aber seit sie wieder Kampfsport betrieb und nicht mehr so viel Alkohol trank, hatte sie fünf Kilo abgenommen und war wieder so fit, wie vor der Scheidung. Außerdem hatte sie keine dunklen Ringe mehr unter den Augen und hin und wieder trug sie ihr dunkelblondes Haar sogar offen, anstatt wie gewöhnlich in einem strengen Pferdeschwanz. Sie fühlte sich endlich wieder wohl in ihrer Haut. Warum hatte sie also Rays Einladung ausgeschlagen?

Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt um persönliche Probleme zu wälzen. Konzentrier� dich lieber auf den Fall.

Also verdrängte sie alle irrelevanten Gedanken und sah sich aufmerksam um. Sie wollte sich einen Eindruck von der Welt der Raineys verschaffen, bevor sie die Ermittlungen aufnahm.

Playa del Rey war keine besonders große Nachbarschaft, aber die sozialen Differenzen waren gravierend. Keris Appartment befand sich beispielsweise direkt über einem chinesischen Restaurant, in einem Bezirk, in dem größtenteils Arbeiter lebten.

Das gleiche galt für die kleinen Wohnblocks bei Manchester Avenue. Aber je näher man dem Strand und dem Hügel kam, auf dem die Raineys wohnten, desto größer und pompöser wurden die Häuser, die fast alle Ausblick aufs Meer boten.

Das Haus, vor dem sie jetzt stand, war ziemlich beeindruckend, wenn auch nicht so mächtig wie einige Villen in der Gegend. Es strahlte jedoch eine familiäre Gemütlichkeit aus.

Das Gras im Vorgarten war ein bisschen zu lang, um ordentlich zu sein, und überall lagen Spielsachen verstreut, einschließlich einer blauen Plastik-Rutsche und einem umgeworfenen Dreirad. Der gepflasterte Weg zur Haustür war mit Kreide verziert, eindeutig das Werk des sechsjährigen Sohnes. Der Treppenabsatz an der Haustür wies die ausgefeilteren Kunstwerke eines Teenagers auf.

Ray klingelte und warf lieber einen Blick durch den Türspion als zu Keri. Sie spürte seinen Frust und seine Verwirrung und sie beschloss, sich zurückzuhalten. Sie hätte ohnehin nicht gewusst, was sie sagen sollte.

Keri hörte, wie jemand zur Tür eilte und keine Sekunde später flog die Tür auf und eine Frau Ende dreißig erschien vor ihnen. Sie trug eine lange dunkle Hose und eine elegante Baumwollbluse. Sie hatte kurzes dunkles Haar und hatte ein sympathisches, offenes Gesicht. Ihre Augen waren gerötet und feucht von Tränen.

„Mrs. Rainey?“, fragte Keri in ruhigem Ton.

„Ja. Sind Sie die Detectives?“, fragte sie hoffnungsvoll.

„Ja“, entgegnete Keri. „Ich bin Keri Locke und das hier ist mein Partner, Ray Sands. Dürfen wie hereinkommen?“

„Natürlich. Bitte. Mein Mann Tim holt gerade ein paar Fotos von Jessi. Er wird gleich zu uns stoßen. Haben Sie schon etwas herausgefunden?“

„Noch nicht“, sagte Ray. „Aber wie ich sehe, ist das Team von der Spurensicherung bereits eingetroffen. Wo sind sie?“

„In der Garage. Sie untersuchen Jessis Sachen gerade auf Fingerabdrücke. Mir wurde gesagt, dass ich nichts anrühren soll. Aber ich konnte die Sachen doch nicht einfach auf der Straße liegen lassen. Wenn jemand sie mitgenommen hätte, hätten wir überhaupt keine Beweise mehr.“

Während sie sprach, wurde ihre Stimme immer höher und panischer. Keri sah ihr an, dass sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand.

„Ganz ruhig, Mrs. Rainey“, sagte sie. „Mögliche Abdrücke können immer noch sichergestellt werden und Sie können uns später zeigen, wo Sie den Rucksack und das Fahrrad gefunden haben.“

In diesem Moment hörten sie, dass jemand die Treppe herunterkam. Keri drehte sich um und sah einen Mann mit einem Stapel Fotos auf sich zukommen. Er war schlank und hatte wirres braunes Haar und eine Brille mit einem dünnen Silberrahmen. Tim Rainey trug ein Hemd und Khakis. Er sah genauso aus, wie Keri sich einen IT-Experten vorstellte.

„Tim“, sagte seine Frau, „das sind die Detectives, die uns helfen werden, Jessi wieder zu finden.“

„Danke, dass Sie sofort gekommen sind“, sagte er so leise, dass es fast geflüstert war.

Keri und Ray schüttelten ihm nacheinander die Hand und Keri bemerkte, dass die andere Hand, in der er die Fotos hielt, leicht zitterte. Seine Augen waren zwar nicht rot, aber er war unendlich blass und auf seiner Stirn zeichneten sich Sorgenfalten ab. Er wirkte völlig überwältigt von dem plötzlichen Stress.

Keri wusste genau, wie er sich jetzt fГјhlte.

„Vielleicht sollten wir Platz nehmen und Sie erzählen uns ganz genau, was sich heute ereignet hat“, sagte sie, als ihre Knie ebenfalls zu zittern begannen.

Carolyn Rainey fГјhrte sie ins Wohnzimmer, wo ihr Mann die Fotos auf den Tisch legte und sich schwer auf die Couch fallen lieГџ. Sie setzte sich neben ihn und legte ihre Hand auf sein Knie, das jetzt wild auf und ab wippte. Unter der BerГјhrung beruhigte er sich sofort.

„Ich bin losgegangen um Jessi von der Schule abzuholen“, begann Carolyn, „ich gehe ihr jeden Tag entgegen und sie fährt mit dem Fahrrad, bis wir uns treffen. Den Rest gehen wir gemeinsam nach Hause. Wir treffen uns fast immer an der gleichen Stelle, einen Block hin oder her.“

Tim Raineys Knie begann wieder wild zu zittern und sie tätschelte es, um ihn darauf aufmerksam zu machen. Sobald er sich entspannte, redete sie weiter.

„Als ich schon weit über die Hälfte zurückgelegt hatte, habe ich mir langsam Sorgen gemacht. Es ist erst zweimal vorgekommen, dass ich  ganz zur Schule gehen musste. Einmal hatte sie ein Textbuch in ihrem Spind vergessen und musste umkehren und einmal war ihr plötzlich schlecht geworden. Beide Male hat sie mich angerufen und Bescheid gesagt.“

„Wenn ich kurz unterbrechen darf“, sagt Ray, „geben Sie mir doch bitte ihre Handynummer. Wir können sie vielleicht tracken.“

„Daran habe ich auch schon gedacht. Ich habe sie also sofort angerufen, als ich ihre Sachen gefunden habe. Ihr Handy lag im gleichen Busch. In dem ich den Rucksack gefunden habe.“

„Haben Sie es hier?“, fragte Keri. „Vielleicht können wir noch verwertbare Daten darauf finden.“

„Die Spurensicherung hat es.“

„Sehr gut“, sagte Keri. „Wir werden es uns ansehen, sobald sie es freigeben. Darf ich Ihnen zunächst noch ein paar Fragen stellen?“

„Natürlich“, sagte Carolyn.

„Hatte Jessica in letzter Zeit mit irgendjemandem Schwierigkeiten? Vielleicht mit Freunden?“

„Nein. Aber sie hat sich plötzlich für einen anderen Jungen interessiert. Die Winterferien gingen vor kurzem zu Ende und sie sagte, dass die Ferien einiges verändert hätten. Da ihr erster Schwarm aber nie herausgefunden hat, dass sie in ihn verliebt war, glaube ich kaum, dass ihr Verschwinden etwas damit zu tun hat.“

„Es wäre dennoch hilfreich, wenn Sie uns die Namen der beiden Jungen aufschreiben könnten“, sagte Ray. „Hat sie ihnen je von besonderen Leuten innerhalb oder außerhalb der Schule erzählt?“

Die Raineys schГјttelten gleichzeitig den Kopf.

„Darf ich?“, fragte Keri und deutete auf die Fotos.

Carolyn nickte. Keri nahm den Stapel in die Hand und begann, sich die Aufnahmen anzusehen. Die zwölfjährige Jessica Rainey sah ganz normal aus. Sie zeigte ein breites Lächeln und hatte die leuchtenden Augen ihrer Mutter und die wilden braunen Haare ihres Vaters.

„Wir werden jede mögliche Spur untersuchen“, versicherte Ray ihnen. „Aber bitte ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse. Es ist durchaus möglich, dass es sich nur um ein Missverständnis handelt. Seit über zwei Jahren gab es in dieser Gegend keine gemeldeten Fälle von Kindesentführung, wir sollten uns mit solchen Vermutungen also vorerst zurückhalten.“

„Das ist uns auch bewusst“, sagte Carolyn Rainey, „aber Jessi würde nicht einfach mit Freunden nach Hause gehen und ihre Sachen am Straßenrand liegen lassen. Und sie würde niemals freiwillig ihr Handy zurücklassen. Das passt einfach nicht zu ihr.“

Ray antwortete nichts darauf. Keri wusste, dass er das Gefühl hatte, eine andere Erklärung anbieten zu müssen. Normalerweise würde er auch nicht so schnell an eine Entführung glauben wie Keri. Aber jetzt schien selbst Ray keine Gründe zu finden, warum Jessica ihre Sachen einfach auf der Straße liegengelassen hätte.

„Können wir ein paar dieser Fotos mitnehmen?“, fragte Keri, um die unangenehme Stille zu überbrücken. „Wir würden sie gerne an ein paar Kollegen weitergeben.“

„Natürlich. Nehmen Sie alle mit, wenn Sie wollen“, sagte Carolyn.

„Nicht alle“, meldete Tim sich zu Wort und zog ein Foto aus dem Stapel. „Das hier würde ich gerne behalten, wenn Sie einverstanden sind.“

Auf dem Foto war Jessica mit Wanderstiefeln und einem viel zu großen Rucksack in einem Wald zu sehen. Ihr Gesicht zeigte eine Art Kriegsbemalung und um den Kopf hatte sie ein buntes Band gewickelt. Sie grinste fröhlich. Zur Identifikation war es eher ungeeignet, und Keri spürte, dass es ihrem Vater sehr wichtig war.

„Behalten Sie es. Wir haben, was wir brauchen“, sagte sie sanft, bevor sie wieder zur Sache kam. „Es gibt noch ein paar andere Dinge, die wir so schnell wie möglich von Ihnen brauchen. Schreiben Sie es sich besser auf. In solchen Situationen ist Zeit ein wichtiger Faktor. Leider werden wir nicht immer Rücksicht auf Ihre Gefühle nehmen können. Sind Sie bereit?“

Beide nickten.

„Gut“, sagte Keri. „Wir werden folgendermaßen vorgehen. Mrs. Rainey, Sie zeigen uns bitte ganz genau, welchen Weg Sie und Jessica normalerweise nehmen. Außerdem müssen wir uns in ihrem Zimmer umsehen, einschließlich Computer und Tablet, wenn Jessica solche Geräte besitzt. Wie schon erwähnt werden wir auch ihr Handy untersuchen.“

„Okay“, sagte Mrs. Rainey und schrieb sich ein paar Stichpunkte auf.

„Außerdem brauchen wir eine Liste von Jessicas Freunden, einschließlich Kontaktinformationen. Schreiben Sie auch alle Personen auf, mit denen sie im vergangenen Jahr Schwierigkeiten hatte. Und wir brauchen die Telefonnummer des Schuldirektors und falls Sie die Nummern des Klassenlehrers und des Vertrauenslehrers haben, geben Sie sie uns bitte auch. Das geht schneller, als mit der Schulverwaltung Kontakt aufzunehmen.“

„Kein Problem, ich besorge Ihnen alles, was Sie brauchen“, sagte Carolyn.

„Schreiben Sie bitte auch Namen und Telefonnummern von Sporttrainern und Tutoren auf, wenn Jessica welche hatte“, fügte Ray hinzu, „und vergessen Sie nicht die beiden Jungen, in die sie verliebt war. Detective Locke und ich werden uns aufteilen, um so schnell wie möglich voranzukommen.“

Keri sah ihn an. Seine Stimme klang ganz normal, aber sie wusste, dass mehr dahinter steckte.

Nimm es nicht persönlich, es ist sinnvoll sich aufzuteilen.

„Ja“, sagte sie schließlich, „ich werde mit Mrs. Rainey den Schulweg abgehen, bevor es dunkel wird. Wir haben noch eine gute Stunde bis Sonnenuntergang. Unterwegs können wir auch an der Liste arbeiten.“

„Sie können mir inzwischen Jessicas Zimmer zeigen, Mr. Rainey“, sagte Ray. „Danach sollten Sie Ihren Sohn abholen. Wie heißt er eigentlich?“

„Nathaniel. Nate.“

„Nun, bis Sie mit ihm nach Hause kommen, wird die Spurensicherung ihre Arbeit abgeschlossen haben. Dann sind nicht mehr so viele fremde Menschen im Haus. Wahrscheinlich wollen Sie die Situation für ihn möglichst normal halten. Wenn wir ihn befragen müssen, ist er dann nicht so eingeschüchtert.“

Tim Rainey nickte geistesabwesend, als hätte er ganz vergessen, dass er noch einen Sohn hat. Ray fuhr fort.

„Sobald Sie sich auf den Weg machen, werde ich zur Schule gehen und mich mit ein paar Leuten unterhalten. Wenn wir Glück haben, gibt es vielleicht Überwachungskameras. Mrs. Rainey, ich werde Sie und Detective Locke an der Schule treffen und Sie dann wieder nach Hause bringen.“

„Werden Sie eine Vermisstenmeldung an die Öffentlichkeit geben?“, fragte Carolyn Rainey.

„Vorerst nicht“, sagte Ray. „Möglicherweise werden wir das bald tun, aber zuerst brauchen wir noch ein paar Informationen. Wir wissen noch nicht genug über ihr Verschwinden.“

„Machen wir also uns an die Arbeit“, sagte Keri, „je schneller wir die einzelnen Punkte abarbeiten, desto besser können wir uns ein Bild machen.“

Sie standen auf. Carolyn Rainey nahm ihre Handtasche und ging zur TГјr.

„Ich melde mich, wenn wir etwas herausfinden“, sagte sie zu ihrem Mann und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Er nickte und nahm sie fest in die Arme.

Keri sah zu Ray, der die beiden beobachtete. Als sein Blick zu ihr wanderte, sah sie ihm an, dass er immer noch enttäuscht war.

„Ich rufe dich an, wenn wir bei der Schule angekommen sind“, sagte sie leise zu ihm. Er nickte nur.

Seine kühle Reaktion erschreckte sie, aber sie konnte es verstehen. Er war das Risiko eingegangen und hatte einen Schritt auf sie zu gewagt und sie hatte ihn ohne jede Erklärung abgewiesen. Vielleicht war es gut, dass sie eine Weile ohne den anderen arbeiteten.

Als die beiden Frauen das Haus verlieГџen und sich langsam entfernten, ging ihr ein Gedanke nicht mehr aus dem Kopf.

Ich habe es verbockt.




KAPITEL DREI


Neunzig Minuten später saß Keri wieder an ihrem Schreibtisch. Sie stieß ein frustriertes Seufzen aus. Die vergangenen eineinhalb Stunden waren ergebnislos gewesen.

Sie hatten auf dem Weg nichts Außergewöhnliches feststellen können. Keine Anzeichen eines Kampfes, keine Reifenspuren an der Stelle, an der Mrs. Rainey Jessicas Fahrrad gefunden hatte. Keri hatte an mehreren Häusern geklingelt um festzustellen, ob irgendjemand etwas gesehen oder zur Straße gerichtete Überwachungskameras installiert hatte, aber ohne Erfolg.

Als sie die Schule erreicht hatten, hatte Ray bereits mit dem Schuldirektor geredet, der ihnen versprochen hatte, eine E-Mail an alle Familien zu schicken, für den Fall, dass irgendjemand etwas wusste, was für sie hilfreich sein könnte. Der Sicherheitsdienst hatte bereits sämtliche Überwachungsmaterialien zusammengestellt und während Ray in der Schule blieb, um sich diese Materialien anzusehen, hatte Keri Mrs. Rainey nach Hause gebracht und war auf das Revier zurückgefahren, um sich mit den möglichen Zeugen in Verbindung zu setzen.

Mrs. Rainey hatte vermutlich den Eindruck, dass sich die beiden Detectives einfach nur die Arbeit aufteilten. Gewissermaßen stimmte das auch, aber insgeheim hätte sie es nicht ertragen, schweigend neben Ray zurück zur West-LA Division zu fahren.

Stattdessen war sie vom Haus der Raineys aus mit der Bahn weitergefahren.

Seit einer halben Stunde war sie nun dabei, Jessicas Freunde und Klassenkameraden anzurufen. Doch bisher hatte ihr niemand brauchbare Informationen geben können. Drei ihrer Freunde hatten gesehen, wie Jessica mit dem Fahrrad losgefahren war, aber ihnen war nichts Außergewöhnliches aufgefallen.

Keri hatte auch die beiden Jungen kontaktiert, die Jessica in den vergangenen Wochen zu Hause erwähnt hatte. Obwohl beide wussten, wer Jessica Rainey war, schien keiner der beiden über ihre Gefühle Bescheid zu wissen. Keri war nicht überrascht. Als sie in Jessicas Alter gewesen war, hatte sie ganze Hefte mit den Namen von Jungs gefüllt, die ihr gefielen, ohne je mit ihnen geredet zu haben.

Dann rief sie Jessicas Lehrer an, ihren Softball-Trainer, ihren Mathe-Tutor und sogar den Leiter ihrer Nachbarschaftswache. Wenn jemand nicht antwortete, hinterlieГџ sie eine Nachricht. Doch niemand wusste irgendetwas Гјber Jessica.

Jetzt wählte sie Rays Nummer. Er antwortete beim ersten Klingeln.

„Sands.“

„Ich habe leider nichts Neues“, sagte sie und versuchte, sich einzig auf den Fall zu konzentrieren. „Niemandem ist irgendetwas aufgefallen. Ihre Freunde sagen, dass alles wie immer war, als sie von der Schule losgefahren ist. Ich warte noch auf ein paar Rückrufe, aber ich glaube kaum, dass sie viel hergeben werden. Hattest du mehr Glück?“

„Bisher nicht. Die Kameras decken nur das Schulgelände ab. Ich habe die Aufnahme gefunden, die zeigt, wie Jessica sich von allen verabschiedet und losfährt, aber das war’s. ich habe den Sicherheitsdienst gebeten, alle Aufnahmen dieser Woche herauszusuchen. Vielleicht finden wir etwas Verdächtiges. Das kann aber eine Weile dauern.“

Zwischen den Zeilen hörte Keri heraus, dass er so bald nicht aufs Revier kommen würde. Keri beschloss, es zu ignorieren.

„Ich finde, wir sollten die Vermisstenmeldung herausgeben“, sagte sie. „Es ist jetzt sechs Uhr, vor drei Stunden hat ihre Mutter die Polizei verständigt. Es gibt keine Hinweise, dass es sich nicht um eine Entführung handelt. Wenn sie direkt nach der Schule entführt wurde, zwischen 2:45 und 3 Uhr, könnte sie inzwischen schon bis nach Palm Springs oder San Diego gebracht worden sein. Wir sollten so viel Aufmerksamkeit wie möglich auf uns ziehen.“

„Einverstanden“, sagte Ray. „Kannst du dich darum kümmern? Ich möchte so schnell wie möglich die Aufnahmen durchsehen.“

„Kein Problem. Kommst du aufs Revier, wenn du fertig bist?“

„Mal sehen“, antwortete er ausweichend. „Je nachdem, was ich noch finde.“

„Gut. Sag Bescheid, wenn du etwas hast.“

„Das werde ich“, sagte er und beendete das Gespräch, ohne sich zu verabschieden.

Keri zwang sich, nicht darüber nachzudenken, sondern so schnell wie möglich alles für die öffentliche Vermisstenmeldung vorzubereiten. Als sie damit fast fertig war, sah sie ihren Boss, Lieutenant Coleman, an ihrem Schreibtisch vorbeilaufen.

Wie immer trug er eine locker gebundene Krawatte unter seiner Sportjacke und ein kurzes Hemd, das seinen Bauch nur mГјhsam bedeckte. Er war nicht viel Г¤lter als fГјnfzig, aber sein Job hatte ihn frГјhzeitig altern lassen, sodass sich jetzt schon tiefe Falten auf seiner Stirn und an den Augenlidern abzeichneten. Sein Haar schien mit jedem Tag grauer zu werden.

Sie rechnete damit, dass er zu ihr herГјber kam, um sich Гјber den Stand der Ermittlungen zu informieren, aber er sah nicht einmal in ihre Richtung. Keri war das nur recht. Sie wollte sich zuerst bei den Kollegen von der Spurensicherung erkundigen, ob sie irgendwelche FingerabdrГјcke sicherstellen konnten.

Nachdem sie die Vermisstenmeldung herausgegeben hatte, ging sie durch das Revier, in dem es für diese Uhrzeit erstaunlich ruhig war. Sie ging den Gang hinunter zu den Räumen der Spurensicherung, klopfte an die Tür und steckte ohne eine Antwort abzuwarten den Kopf durch die Tür.

„Gibt es Neuigkeiten im Fall Jessica Rainey?“

Die neue Sekretärin, eine junge Frau mit dunklen Haaren und Brille, sah von ihrem Magazin auf. Keri kannte sie nicht, weil die Stelle ständig neu besetzt wurde. Die junge Frau gab den Namen in ihren Computer ein.

„Der Rucksack und das Fahrrad haben keine Fingerabdrücke ergeben“, sagte sie. „Das Handy wird noch überprüft, aber den Einträgen nach zu schließen sind sie nicht besonders optimistisch, etwas zu finden.“

„Können Sie mich bitte informieren, sobald die Untersuchungen abgeschlossen sind? Auch wenn es keine neuen Ergebnisse gibt. Ich möchte mir das Handy gerne selbst ansehen.“

„Wird gemacht, Detective“, sagte sie und wandte sich wieder dem Magazin zu, noch bevor Keri die Tür hinter sich zugezogen hatte.

Als sie jetzt alleine auf dem Gang stand, fiel ihr plötzlich auf, dass es für sie nichts mehr zu tun gab. Die Vermisstenmeldung war raus, Ray kümmerte sich um die Aufnahmen der Videoüberwachung, der Bericht der Spurensicherung war in Arbeit, Jessicas Handy war noch nicht freigegeben und sie hatte alle Nummern auf der Liste von Carolyn Rainey angerufen.

Sie lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. Zum ersten Mal seit Stunden gönnte sie ihrem Kopf eine Pause. Sofort machten sich unerwünschte Gedanken breit.

Sie sah Rays verletzten und verwirrten Gesichtsausdruck vor sich. Sie sah einen schwarzen Van, der mit ihrer Tochter in der Dunkelheit verschwand. Sie sah die Augen des Sammlers, als sie seine Kehle zudrückte, obwohl er bereits an der Kopfwunde starb. Mit bloßen Händen hatte sie dem Mann, der vor über fünf Jahren ihre Tochter gestohlen hatte, das letzte bisschen Leben aus dem Körper geschüttelt. Sie sah die unscharfe Aufnahme des Schwarzen Witwers vor sich, wie er dem anderen Mann in den Kopf schießt, Evie aus dem Van zieht und sie in seinen eigenen Wagen steckt.

Schnell öffnete sie die Augen. Sie stand vor dem Lagerraum für Beweismittel. In den vergangenen Wochen war sie unzählige Male hier gewesen und die Fotos von Brian dem Sammler Wickwires Appartement studiert.

Die eigentlichen Beweismittel wurden im Hauptquartier in der Innenstadt aufbewahrt, weil das Appartement in deren Zuständigkeitsbereich lag. Immerhin hatten die Verantwortlichen im Hauptquartier eingewilligt, dass der Polizeifotograf sämtliche Beweismittel ablichtete, solange die Fotos die Polizeiwache nicht verließen. Da Keri den Tod eines Mannes auf dem Gewissen hatte, konnte sie über diese Bedingungen nicht verhandeln.

Sie hatte die Fotos nun seit ein paar Tagen nicht mehr angesehen und plötzlich hatte sie das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Irgendetwas sagte ihr, dass es eine Verbindung gab, die sie nur erkennen musste. Langsam betrat sie den Raum.

Die Verwalterin war nicht Гјberrascht, Keri zu sehen und schon ihr die Registrierungskarte ohne Kommentar entgegen. Keri trug sich ein und ging zielstrebig auf den Karton mit den Fotos zu. Sie wusste genau, in welchem Regal er stand. Sie nahm den Karton und stellte ihn auf einen der Tische, die im hinteren Teil des Raumes standen.

Keri setzte sich und knipste die Leselampe an. Dann breitete sie die Fotos vor sich aus. Sie hatte sie schon so oft angesehen. Jedes Buch, das Wickwire besaß, war katalogisiert und abfotografiert worden, genau wie jedes einzelne Kleidungsstück und sämtliche Gegenstände auf den Küchenregalen.

Dieser Mann stand unter Verdacht, im Laufe der Jahre bis zu fünfzig Kinder entführt und verkauft zu haben, und die Detectives im Hauptquartier waren entschlossen, nichts unversucht zu lassen, um den Fall aufzuklären.

Doch Keri spürte, dass das, was sie suchte, nicht auf den Fotos zu finden war, die sie zuletzt angesehen hatte. Es musste etwas sein, das sie völlig unbewusst registriert hatte. Als sie vor wenigen Minuten auf dem Gang gestanden hatte, hatte sich bei all den schmerzhaften Erinnerungen plötzlich etwas in ihrem Verstand geregt.

Was kann es nur sein? Wo liegt die Verbindung, die ich einfach nicht greifen kann?

Und plötzlich sah sie es.

Über dem Schreibtisch des Sammlers hingen einige Tierfotografien. Sie hatten alle die gleiche Größe. Eine Aufnahme zeigte einen Frosch auf einem Stein, daneben ein Feldhase mit aufgestellten Ohren und wieder daneben ein Specht, der gegen einen Baumstamm klopfte. Dann folgte ein Lachs, der gerade stromaufwärts sprang und schließlich kam das Foto einer Spinne auf einem braunen Untergrund – genauer gesagt eine schwarze Witwe.

Schwarze Witwe. Schwarzer Witwer. War das die fehlende Verbindung?

Vielleicht war es nur Zufall. Den ermittelnden Detectives war ganz offensichtlich nichts verdächtig vorgekommen. Sie hatten die Bilder nicht einmal als Beweismittel katalogisiert. Doch Keri wusste, dass der Sammler seine Informationen gerne verschlüsselte.

So hatte sie schlieГџlich auch Evie und zahlreiche weitere entfГјhrte Kinder aufgespГјrt. Der Sammler hatte ihre Aufenthaltsorte auf Ansichtskarten notiert, verschlГјsselt mit einem alphanumerischen Geheimcode.

Keri wusste, dass es zwischen dem Sammler und dem schwarze Witwer noch eine Verbindung gab: Beide hatten mehrfach fГјr Jackson Cave gearbeitet.

Vielleicht sind sie sich bei einem Job begegnet? Hatte Wickwire so die Kontaktinformationen von anderen Kriminellen aufbewahrt, falls er je mit ihnen in Kontakt treten mГјsste?

Keri trug plötzlich jene Gewissheit in sich, die sie manchmal überkam, wenn sie einen wichtigen Hinweis in einem Fall gefunden hatte. Sie wusste, dass sie etwas Nützliches finden würde, wenn sie nur das Foto untersuchen könnte.

Leider befand es sich in Brian Wickwires Appartment, das immer noch unter Verschluss stand. Als sie vor zwei Wochen versucht hatte, sich Zutritt zu verschaffen, war es mit Polizeiband versiegelt und zwei Polizisten bewachten es rund um die Uhr.

Sie überlegte gerade, wie sie trotzdem hineinkommen könnte, als ihr Handy klingelte. Es war Ray.

„Hi“, sagte er zögerlich.

„Kannst du sofort zu den Raineys kommen?“, fragte er ohne Umschweife.

„Selbstverständlich. Was ist denn los?“

„Sie haben soeben eine Lösegeldforderung erhalten.“




KAPITEL VIER


Zwanzig angespannte Minuten später hielt Keri vor dem Haus der Raineys an. Wieder stand der Transporter der Spurensicherung bereits dort. Sie klopfte und Ray öffnete die Tür. Sie sah ihm an, dass die Situation mehr als düster war. Hinter ihm konnte sie die Raineys auf dem Sofa sitzen sehen. Carolyn weinte, ihr Gatte war völlig erstarrt.

„Ich bin froh, dass du hier bist“, sagte Ray aufrichtig. „Ich bin vor fünf Minuten eingetroffen. Sie stehen kurz vor einem Nervenzusammenbruch.“

„Haben die Erpresser einen Zeitpunkt genannt?“, fragte Keri leise, als sie eingetreten war.

„Ja, die Übergabe soll heute um Mitternacht stattfinden. Sie wollen einhunderttausend.“

„Wow.“

„Aber das ist nicht das Schlimmste daran“, sagte Ray. „Du musst dir den Brief ansehen. Er ist irgendwie… komisch.“

Keri betrat das Wohnzimmer. Ein Mitarbeiter der Spurensicherung untersuchte gerade einen Umschlag von einem Express-Kurier auf FingerabdrГјcke. Sie drehte sich um und blickte zu Ray, der ihr kurz zunickte.

„Verrückt, oder?“, flüsterte er. „Ich habe noch nie gehört, dass eine Lösegeldforderung per Federal Express verschickt wurde. Ich habe die Sendenummer bereits an Edgerton weitergegeben. Er sagt, dass der Umschlag heute Mittag um 1:58 Uhr in El Segundo aufgegeben wurde.“

„Aber um die Uhrzeit wurde Jessica noch gar nicht vermisst“, stellte Keri fest.

„Richtig. Der Kidnapper muss es losgeschickt haben bevor er sie entführt hat – ziemlich dreist. Suarez ist schon unterwegs nach El Segundo, um die Aufnahmen der Überwachungskameras auszuwerten.“

„Sehr gut“, sagte Keri, bevor sie zu den Raineys ging. Sie wusste jetzt, dass sie von den besten Männern bei der Ermittlung unterstützt wurde. Detective Kevin Edgerton war ein absoluter Experte auf seinem Gebiet und Detective Manny Suarez war ein sehr hartnäckiger und erfahrener Ermittler. Den beiden würde bestimmt nichts entgehen.

„Hallo“, sagte Keri sanft und sofort blickten die Raineys auf. Carolyns Augen waren rot und geschwollen, aber es liefen keine Tränen mehr. Tim war so bleich wie ein Gespenst, er sah verzweifelt aus.

„Hallo Detective“, flüsterte Carolyn.

„Darf ich einen Blick auf den Brief werfen?“, fragte sie und ließ ihren Blick über das Stück Papier gleiten, das vor ihr auf dem Couchtisch lag. Man hatte es bereits als Beweisstück in einer durchsichtigen Folie gesichert.

Sie nickte stumm. Keri ging näher heran, um sich das Blatt genauer ansehen zu können. Auch ohne den Brief zu lesen, war klar, dass er nicht von einem Computer ausgedruckt worden war. Der Brief hatte Standardgröße und war getippt. Das machte Keri sofort aufmerksam.

Jeder Drucker hinterlieГџ identifizierbare Spuren, ein Muster von Punkten, die einem ungeГјbten Auge nicht auffielen. Diese Punkte waren wie ein Code, anhand dessen man Marke, Modell und sogar Seriennummer des verwendeten Druckers bestimmen konnte. Wenn die Person, die diesen Brief geschrieben hatte, schlau genug war, ihn nicht selbst auszudrucken, dann handelte es sich vermutlich nicht um einen Amateur.



Der Brief selbst war ebenso beunruhigen:



Das Kind ist besessen von einem dunklen Geist. Dieser Geist muss ausgetrieben werden, damit das Kind gesund werden kann. So traurig es ist, es muss geschehen. Die Saat des Schöpfers verlangt es. Ich kann dieses Kind mit dem heiligen Messer, dem sakralen Werkzeug des Herrn, von diesem Geist befreien. Die Dämonen müssen mitsamt ihren Wurzeln aus dem Kind geschnitten werden.

Wenn du mir versicherst, dass du dich vorschriftsgemäß um die Bereinigung kümmern wirst, werde ich das Kind für die Prozedur zurückgeben. Für dieses Opfer muss ich jedoch entschädigt werden. Ich fordere 100 000 $ in kleinen, unmarkierten Scheinen. Schalte nicht die sogenannten Gesetzeshüter ein, dieses erbärmlichste Pack der Welt. Werden die Regeln gebrochen, gebe ich das Kind der Erde zurück. Der Herr wird ihre sterblichen Überreste im verdorbenen Unkraut der Stadt vergraben. Ich habe Beweise für meine Feststellungen gegeben.

Mitternacht. Nur der Vater. Denn nur Väter können die Welt von Verdorbenheit befreien.

Chace Park. Die BrГјcke am Wasser.

100 000 $. Mitternacht. Alleine.

Das Fleisch deines Fleisches hängt von deiner Demut ab.



Keri sah Ray an. Der Brief hinterlieГџ so viele offenen Fragen, dass sich Keri auf die Wichtigste konzentrierte.

„Was meint er mit Beweise gegeben?“, fragte sie.

„In dem Umschlag befand sich eine Folie mit Haarsträhnen“, sagte er. „Wir haben sie für einen DNA-Test ins Labor geschickt.“

„Okay, in diesem Brief gibt es eine Menge zu analysieren“, sagte Keri und wandte sich den Raineys zu. „Lassen wir die psychologischen Faktoren vorerst außen vor. Zuerst wollte ich Ihnen sagen, dass es gut war, dass Sie uns sofort Bescheid gesagt haben. Meistens gehen Entführungen, bei denen die Polizei nicht eingeschaltet wird, um einiges schlechter aus.“

„Ich wollte es nicht, aber Carrie hat darauf bestanden, Sie anzurufen“, gab Tim zu Rainey.

„Nun, das ist jedenfalls gut so“, wiederholte Keri und wandte sich dann an Ray. „Habt ihr schon über das Geld geredet?“

„Das wollten wir gerade tun, als du eingetroffen bist“, sagte Ray. Dann sah er die Raineys an. „Es wäre wahrscheinlich gut, wenn Sie das Geld bereithalten, auch wir alles versuchen, damit es nicht zur Übergabe kommt. Dann haben wir aber die Option. Haben Sie schon darüber nachgedacht, wie Sie die Summe beschaffen könnten?“

„Wir haben das Geld“, sagte Tim Rainey, „nur nicht in bar. Ich habe bereits mit der Bank geredet. Sie sagen, dass solche Transaktionen außerhalb der Betriebszeit nicht einfach sind und dass es so kurzfristig unmöglich ist.“

„Ich habe mit unseren Investment-Verwaltern gesprochen. Sie haben mir genau die gleiche Antwort gegeben“, fügte Carolyn Rainey hinzu. „Morgen früh könnten wir die Summe auf dem Konto haben, aber nicht in bar und nicht bis Mitternacht.“

Keri sah zu Ray.

„Seltsam, dass er den Brief so spät geschickt hat“, sagte sie. „Er muss doch gewusst haben, dass es kaum möglich ist, das Geld so schnell zu bekommen. Warum hat er es so schwierig gemacht?“

„Er macht nicht gerade den Eindruck, als würde er rational handeln“, bemerkte Ray. „Vielleicht hat er wirklich keine Ahnung davon, wie viel Zeit man etwa benötigt, um eine solche Summe zu besorgen.“

„Es gibt noch eine andere Möglichkeit“, unterbrach Tim Rainey plötzlich.

„Und die wäre?“, fragte Ray.

„Ich arbeite für Venergy, eine neue Gaming Company in Playa Vista. Ich arbeite direkt für den Firmengründer Gary Rosterman. Er ist wahnsinnig reich. Und er mag mich. Außerdem ist Jessica letztes Jahr mit seiner Tochter zusammen auf die Montessori-Schule gegangen. Sie sind immer noch befreundet. Ich bin sicher, dass er das Geld auftreiben kann. Vielleicht würde er es uns auslegen.“

„Rufen Sie ihn an, aber machen Sie ihm klar, wie wichtig Diskretion ist“, sagte Ray.

Rainey nickte wild. Sein dГјsterer Blick hellte sich sofort auf. Er schien wieder Hoffnung zu haben. Vielleicht war es aber auch die Tatsache, dass er jetzt eine Aufgabe hatte.

Als er die Nummer wählte, zogen Keri und Ray sich ein paar Schritte zurück. Als sie außer Hörweite waren, flüsterte Ray: „Wir sollten den Brief aufs Revier bringen. Wir brauchen Hilfe, vielleicht von dem Polizeipsychologen. Vielleicht gab es auch ähnliche Fälle in letzter Zeit.“

„Du hast recht. Ich würde den Brief auch gerne in die Datenbank eingeben und sehen, ob wir dort irgendwelche formalen Ähnlichkeiten finden. Man kann nie wissen“, sagte Keri. „Ray, ich habe wirklich kein gutes Gefühl bei dieser Geschichte.“

„Schlechter als sonst? Warum?“

Keri erklärte Ray, warum sie es für kein gutes Zeichen hielt, dass der Brief mit einer Schreibmaschine geschrieben wurde. Ray hatte bereits den gleichen Gedanken gehabt.

„Entweder ist dieser Typ völlig verrückt, oder er ist ein absoluter Profi“, sagte er.

Tim Rainey beendete das Telefonat und sah die beiden Detectives an.

„Gary wird uns helfen“, sagte er. „Er sagt, dass er das Geld in drei Stunden bereit hat.“

„Sehr gut. Wir schicken jemanden zu ihm, sobald er bereit ist. Das ist sicherer, als wenn Sie es selbst abholen.“

„Jetzt müssen wir noch einmal aufs Revier“, erklärte Keri dann. Als sie die Furcht in den Augen der Eltern sah, fügte sie schnell hinzu: „Wir werden vorsichtshalber zwei Beamte bei Ihnen stationieren. Sie können uns jederzeit erreichen.“

„Warum können Sie nicht hier bleiben?“, fragte Carolyn Rainey.

„Wir wollen die Lösegeldforderung mit unserer Datenbank abgleichen und die Meinung der Experten einholen. Wir halten es beide für sinnvoll, die komplette Einheit für Vermisste Personen zurate zu ziehen. Ich verspreche aber, dass wir in ein paar Stunden zurück sind. Dann können wir das weitere Vorgehen genau besprechen. Außerdem werde ich mich darum kümmern, dass der  Park ab sofort überwacht wird, damit alles lange vor dem Treffen bereit ist. Sie können sich auf uns verlassen.“

Carolyn Rainey stand auf und nahm sie Гјberraschend stГјrmisch in die Arme. Das gleiche machte sie mit Ray. Tim Rainey nickte nur anerkennend. Keri sah ihm an, dass er seine Schockstarre Гјberwunden hatte und jetzt alle Zeichen auf Bereitschaft standen.

Sie konnte seine Reaktion besser nachvollziehen als viele andere und wusste, dass es eine Zeitverschwendung war, jemandem in solchen Momenten zu sagen, dass er ruhig bleiben sollte. Seine Tochter war verschwunden. Ein guter Grund durchzudrehen. Bei ihm passierte das nur stiller als bei den meisten Leuten.

Als sie zu ihrem Wagen gingen, drehte sich Ray zu Keri um. „Ich fürchte, wenn wir dieses Mädchen nicht zurückbekommen, erleidet er einen Herzinfarkt“, flüsterte er.

Keri wollte ihm widersprechen, aber sie konnte nicht. Wenn sie damals bei Evies Verschwinden so einen Brief bekommen hätte, hätte sie vermutlich den Verstand verloren. Aber die Raineys hatten ohne es zu wissen ein Ass im Ärmel. Sie hatten Keri.

„Dann lass sie uns möglichst schnell zurückbekommen“, entgegnete sie.




KAPITEL FГњNF


„Ich sage euch, macht nur einen auf Psycho“, rief Detective Frank Brody empört. „Das ganze Gequatsche von Regeln und dem Herrn soll uns verwirren, so einfach ist das.“

Im Konferenzraum übertönten sich aufgeregte Stimmen gegenseitig und Keri wurde langsam wütend. Am liebsten hätte sie alle angeschrien, endlich still zu sein, aber aus Erfahrung wusste sie, dass ein paar dieser Männer erst einmal Dampf ablassen mussten, bevor sie etwas Hilfreiches produzieren konnten.

Brody, eines der Urgesteine auf dem Revier, der nur noch einen knappen Monat bis zu seiner Pensionierung hatte, war überzeugt, dass der Brief ein Betrug war. Wie üblich hatte er einen auffälligen Fleck auf dem Hemd, das zwar im Hosenbund steckte, aber aufgrund eines fehlenden Knopfes einen ungewollten Einblick auf seinen runden Bauch erlaubte. Und wie üblich war er lauter als alle anderen, ob er nun recht hatte oder nicht.

„Das können Sie doch gar nicht wissen!“, schnappte Officer Jamie Castillo zurück. „Das behaupten Sie nur, damit der Fall einfacher aussieht.“

Castillo war zwar noch kein Detective, aber dank ihrer Kompetenz und ihrer enthusiastischen Art war sie bereits ein vollwertiges Mitglied im Team und wurde fast immer Keris und Ray Fällen zugewiesen. Obwohl sie noch Junior-Status hatte, war sie alles andere als ein Mauerblümchen.

Jetzt funkelten ihre dunklen Augen und ihr schwarzer Pferdeschwanz bebte aufgeregt auf und ab. Ihr durchtrainierter Körper war frustriert nach vorne gebeugt.

„Keiner von uns kennt sich gut genug damit aus“,  mischte sich Detective Kevin Edgerton ein. „Wir brauchen einen psychologischen Fachmann.“

Keri war nicht überrascht, dass Edgerton das vorschlug. Der große und sehnige junge Mann mit chronisch ungekämmten Haaren war ein wahres Computergenie und kannte sich mit sämtlichen Elektrogeräten bestens aus. Er war noch keine dreißig Jahre alt und traute sich oft nicht, sich auf seine Instinkte zu verlassen, wenn es um Vermutungen ging. Ihm lag es in der Natur, die Dinge zu analysieren.

Keri fГјrchtete jedoch, dass der Polizeipsychologe auch keine sichereren RГјckschlГјsse ziehen konnte, als der Rest von ihnen. Es wГјrde bei Spekulationen bleiben und in dem Fall vertraute sie lieber auf ihr eigenes BauchgefГјhl.

Lieutenant Hillman hielt die Hände in die Höhe und zu Keris Überraschung wurde es still im Raum.

„Ich habe Dr. Freeney eine Kopie geschickt. Er sieht sie sich in diesem Moment genauer an und wird uns bald seine Meinung dazu mitteilen. Bis dahin heißt es abwarten. Wer möchte also gerne seine Ansichten mit uns teilen? Sands?“

Ray war die ganze Zeit still dagesessen und hatte sich Гјber den blanken Kopf gerieben. Als Keri ihn jetzt ansah, spiegelte sich das Licht in seinem kГјnstlichen Auge, das er seit einem Unfall im Boxring trug. Er blickte auf und Keri konnte seine Gedanken lesen, bevor er sie aussprach.

„Ich bin geneigt, frank zuzustimmen. Alles, was der Kidnapper geschrieben hat, ist so überzogen, dass ich es nicht ernstnehmen kann. Abgesehen von der eigentlichen Lösegeldforderung. Summe und Ort sind absolut präzise genannt, kein bisschen zweideutig. Das macht den Rest eher unglaubwürdig. Trotzdem…“

„Was?“, hakte Hillman nach.

„Nun, ich bin nicht sicher, ob es überhaupt einen Unterschied macht. Wir wissen fast nichts und haben nicht viel Zeit. Ob er nun wirklich verrückt ist oder es nur vorgibt, fest steht, dass das Treffen schon in ein paar Stunden stattfinden soll.“

„Ich sehe das etwas anders“, sagte Keri daraufhin. Sie widersprach ihrem Partner nicht gerne vor versammelter Mannschaft, auch weil es zwischen ihnen gerade Probleme gab, aber darum durfte es jetzt nicht gehen. Es ging um den Fall und um das Leben dieses Mädchens. Keri hatte sich noch nie zurückhalten können, wenn es um einen Fall ging und jetzt würde sie damit bestimmt nicht anfangen.

„Ich weiß auch nicht, ob der Kidnapper es ernst meint, aber ich glaube, dass es einen großen Unterschied macht. Ehrlich gesagt würde ich es bevorzugen, wenn er kein religiöser Fanatiker ist und es ihm rein um das Lösegeld geht. Dann wäre es mit der Transaktion getan. Dieses Szenario ist viel kalkulierbarer. Er würde heute Nacht garantiert erscheinen, um sein Geld zu holen und er würde Jessica nichts antun, weil er sonst leer ausgeht.“

„Aber du glaubst das nicht?“, fragte Ray. Er kannte Keri ebenso gut wie sie ihn.

„Ich bin skeptisch. Ich denke, es ist möglich, dass er die Zahlungsanweisungen so direkt gestellt hat, weil er alles andere selbst nicht glaubt und sich nur eine Geschichte ausgedacht hat. Aber was ist, wenn er wirklich verrückt ist und gar nicht wirklich hinter dem Geld her ist? Ich meine, der Unterschied ist so radikal, dass es fast lächerlich ist. Für mich scheint seine wahre Leidenschaft in den überspitzt formulierten Wahnvorstellungen zu liegen.“

„Aha, so scheint es also“, unterbrach Brody. Keri bemühte sich, ruhig zu bleiben. Er wollte sie nur aus der Reserve locken, damit sie weniger glaubhaft wirkte. Also nickte sie nur knapp und redete weiter.

„Ja, Frank. So scheint es. Ich bin mir nicht sicher, aber dieses Gerede über das Werk des Herrn klingt, als hätte er eine Art persönliche Liturgie für seine eigene verzerrte Religion entwickelt – bei der er die Macht hat. Wenn das wahr ist, haben wir ein weit größeres Problem.“

„Warum?“, fragte Edgerton.

„Wenn es wirklich um das Austreiben einen bösen Geistes geht, um göttliche Weisung, dann ist das Geld nur zweitrangig. Vielleicht hat er die Lösegeldforderung dann nur gestellt, um die Entführung vor sich selbst zu rechtfertigen. Er sagt sich, dass er wie ein ‚normaler� Entführer tickt, auch wenn es in Wirklichkeit nur eine Ausrede ist und sein Grund viel tiefer geht.“

„Wenn ich Sie richtig verstehe, Locke, wollen Sie sagen, dass er mit dem Lösegeld nur vertuschen will, dass er dem Mädchen etwas antun will“, fasste Hillman zusammen.

„Ja. Vielleicht.“

„Das klingt ein bisschen weit hergeholt“, kommentierte er. „Gibt es außer der Sprache noch etwas, das diese Theorie unterstützt?“

„Es ist nicht nur die Sprache, Lieutenant. Der Fakt, dass er dem Vater anbietet, sie zurückzugeben, wenn er verspricht sie zu reinigen, sagt mir, dass er versucht, dagegen anzukämpfen, dass er einen Weg finden will, sie nicht zu reinigen, indem er sie tötet.“

Als sie aufhörte zu reden, sah sie sich unter ihren Kollegen um. In den Gesichtern sah sie sowohl Skepsis als auch Faszination. Selbst Hillman schien die Theorie abzuwägen.

„oder er will eben doch nur die Kohle und der ganze Hokuspokus ist einfach nur Quatsch“, donnerte Brody. Sofort veränderte sich die Atmosphäre unter den Männern und Keri spürte, wie sie sich vor ihrer Theorie verschlossen.

„Neandertaler“, zischte Castillo Brody genervt zu.

„Ach ja? Dir tut es vielleicht gut, mal ordentlich an den Haaren gezogen zu werden.“

„Ist das eine Herausforderung, alter Mann?“, fragte Castillo und machte selbstbewusst einen Schritt auf ihn zu. Ich trete deinen gestrandeten Wal-Hintern zurück ins Meer!“

„Es reicht!“, rief Hillman. „Wir haben keine Zeit für diese Kindereien! Ein zwölfjähriges Mädchen braucht unsere Hilfe. Brody, noch ein sexistischer Kommentar und ich suspendiere Sie für den Rest Ihrer beruflichen Karriere – auch wenn die nur noch einen Monat dauert. Verstanden?“

Brody presste die Lippen aufeinander. Castillo sah aus. Als wäre sie noch nicht fertig mit ihm, deswegen legte Keri ihre Hand beruhigend auf ihre Schulter und schob drehte sie zu sich um.

„Lass es, Jamie“, flüsterte sie ihr zu. „Der Mann ist nur noch einen Burrito von einem Harzinfarkt entfernt. Du willst doch nicht, dass man dir die Schuld dafür in die Schuhe schiebt.“

Castillo kicherte leise, obwohl sie immer noch wütend war. Sie wollte antworten, doch da betrat Detective Manny Suarez den Konferenzraum. Manny war kein besonders attraktiver Mann. Er war etwas zu dick, hatte wilde Bartstoppeln und Augenlider, die Keri immer an Schnarchi-Schlumpf erinnerten. Er war jedoch ein hervorragender Detective, der gerade von dem FedEx-Büro zurückkam, in dem die Lösegeldforderung aufgegeben worden war. Keri hoffte, dass er Neuigkeiten hatte.

„Was haben Sie herausgefunden?“, fragte Hillman ohne Umschweife.

Suarez schГјttelte den Kopf, setzte sich an den Tisch und legte einen einsamen Kassenzettel auf den Tisch.

„Das ist alles“, sagte er. „Das ist das einzige Beweismittel, das in diesem FedEx-Laden aufzuspüren war. Wir wissen jetzt Datum und Uhrzeit sowie dass es bar bezahlt wurde. Mehr nicht.“

„Gibt es denn dort keine Videoüberwachung?“, fragte Hillman.

„Doch, schon, aber sie ist absolut nutzlos. Die Kamera vor dem Gebäude zeigt jemanden mit riesigem Kapuzenpulli, Cappie und Sonnenbrille. Ich habe die Aufnahmen rausgeschickt, aber ich glaube kaum, dass sie etwas ergeben. Man kann nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt.“

„Keine Innenaufnahmen?“, fragte Castillo.

Suarez zog ein Blatt Papier aus einem Umschlag und legte es neben den Kassenzettel. Es sah aus wie ein Foto, aber es war weiГџ mit dunklem Rand.

„Das ist alles, was die Innenkamera aufgenommen hat, solange die Person im Gebäude war. Sieht aus, als hätte er eine Sonnenbrille benutzt, die Laserstrahlen bricht, um die Aufnahmen zu zerstören“, erklärte Manny.

„Dann kennt er sich aber sehr gut mit Technik aus“, bemerkte Edgerton beeindruckt. „So etwas habe ich nur einmal bei einem Banküberfall gesehen.“

„Gab es vielleicht andere Kameras, in die er nicht direkt hineingeschaut hat?“, fragte Ray.

„Ja, die gab es. Aber der Verdächtige schien sich dessen bewusst zu sein und stand so, dass man ihn nur von hinten sieht. Er wusste genau, was er tat.“

„Ich schätze, dass er auch auf keinen anderen Außenkameras zu sehen war?“, hakte Keri nach. „Ist er nicht vielleicht in ein Auto gestiegen, das wir näher bestimmen könnten?“

„Leider nein“, entgegnete Suarez. „Man sieht ihn noch um die nächste Ecke gehen, aber dort gibt es Industrieunternehmen ohne Überwachungskameras. Von dort kann er überallhin gegangen sein. Keine Chance ihn weiter zu verfolgen.“

„Ich sage es nicht gerne“, begann Edgerton mit Blick auf seinen Laptop, „aber ich habe gerade den Bericht der Spurensicherung erhalten. Schlechte Nachrichten: Sie konnten auf Jessicas Handy und Rucksack keine fremden Fingerabdrücke feststellen.“

Lieutenant Hillmans Handy klingelte, aber er forderte Edgerton mit einer Handbewegung auf, weiterzureden, während er den Raum verließ um den Anruf zu beantworten.  Kevin fuhr also fort.

„Ich habe ihre SIM-Karte ein Programm durchlaufen lassen, das auffällige Aktivitäten aufzeigt. Der Vorgang wurde gerade abgeschlossen, es konnten aber keine Unregelmäßigkeiten festgestellt werden. Jeder Anruf und jede SMS der vergangenen drei Monate kam von oder ging an Freunde und Familie.“

Keri und Ray tauschten einen stummen Blick aus. Nicht einmal die Spannungen zwischen ihnen Г¤nderte etwas an ihrer geteilten Sorge, dass ihnen der Fall langsam entglitt.

Noch bevor jemand auf Edgertons Mitteilung reagieren konnte, erschien Hillman wieder. Keri sah ihm an, dass es noch mehr schlechten Nachrichten gab.

„Das war Dr. Feeney“, sagte er. „Er vermutet, dass der Täter die religiösen Fantasien als Ablenkung benutzt und eigentlich nur an das Geld will.“

Wunderbar. Alle Spuren führen ins Nichts und sämtliche Kollegen gehen von einer kalkulierten Entführung aus, die mit der Geldübergabe gelöst werden kann.

Keri konnte es selbst nicht erklären, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass das ein gefährlicher Irrglaube war; dass der Entführer etwas ganz anderes wollte. Keri befürchtete, dass Jessica, wenn sie nicht bald auf die richtige Spur kamen, am Ende dafür bezahlen musste.




KAPITEL SECHS


Der Zeitpunkt der Geldübergabe näherte sich. Keri versuchte, das beunruhigende Angstgefühl zu ignorieren. Mit jeder Minute, die verstrich, verkleinerte sich ihr Handlungsspielraum. Sie redete sich ein, nicht die Hoffnung aufzugeben und an Jessica zu denken, die wahrscheinlich verzweifelt darauf wartete, gefunden zu werden.

Sowie sich FedEx und Jessicas gefundene Gegenstände als Sackgasse erwiesen hatten, hatte sich das Team auf allgemeinere – und damit weniger aussichtsreiche Optionen konzentriert.

Edgerton gab alle Daten, die sie zu Jessicas EntfГјhrung hatten, zum Abgleich in die Datenbank ein. Doch leider war das eine zeitaufwendige Angelegenheit.

Er gab auch den Brief ins System ein, in der Hoffnung, dass die Sprachanalyse Parallelen zu vergangenen Fällen ergeben würde. Aber auch hierbei hatten sie wenig Hoffnung. Wäre ein derart merkwürdiger Brief schon einmal aufgetaucht, dann hätte sich jemand davon gehört.

Suarez ging die Liste von Sexualstraftätern in dieser Gegend durch. Vielleicht hatte einer schon einmal Lösegeld erpresst. Castillo war mit ein paar Kollegen zum Park gegangen, um alles für die Übergabe vorzubereiten und Brody hatte behauptet, seine Informanten zu kontaktieren, auch wenn Keri vermutete, dass er nur etwas zu Essen holen wollte.

Sie und Ray hatten sich alte Akten vorgenommen, auf der Suche nach anderen Fällen, die Jessicas Entführung ähnelten. Vielleicht handelte es sich um einen Täter, der nach einem langen Gefängnisaufenthalt wieder frei herumlief. Dann könnte es sich um einen Fall vor ihrer Zeit handeln, was erklären würde, dass niemand davon gehört hatte. Sie hatten beide keine große Hoffnung, etwas zu finden, aber sie wussten auch nicht, was sie sonst tun sollten.

Nach einer erfolglosen Stunde Recherche, beschlossen sie, wieder zum Haus der Raineys zurГјckzufahren. Es war fast zehn Uhr und sie fuhren dieselbe Strecke, wie am Morgen, als zwischen ihnen noch alles normal gewesen war. Bevor er sie um ein Date gebeten hatte. Das war zwar beiden bewusst, aber weil es jetzt Dringenderes gab, war die Angelegenheit vorerst auf Eis gelegt.

Während der Fahrt telefonierte Ray mit Detective Garrett Patterson, der von Revier aus alles für die Überwachung am Ort der Lösegeldübergabe, Chace Park, koordinierte.

Patterson war ein stiller Mann Mitte dreißig. Wie Edgerton war er ein Experte auf dem Gebiet der Technik. Doch anders als sein jüngerer Kollege, zeigte Patterson eine ausgeprägte Liebe zum Detail. Er liebte es, stundenlang minutiöse Einzelheiten wie Telefonnummern oder IP-Adressen zu analysieren und zu vergleichen. Das hatte ihm auch den Spitznamen Routine-Pat eingebracht, was ihm aber nichts ausmachte.

Patterson ging nicht gerne Risiken ein. Er war aber der richtige Mann fГјr ein absolut lГјckenloses Setup von elektronischer Гњberwachung, das sowohl effektiv, als auch nahezu unsichtbar war.

„Alles ist vorbereitet“, verkündete Ray, als das Gespräch beendet war. „Das Team ist in Position. Manny ist unterwegs zu Raineys Chef und zusammen bringen sie das Geld zu unseren Leuten, die in einem Van am Waterside Shopping Center warten.“

„Sehr gut“, sagte Keri. „Als du am Telefon warst, ist mir etwas eingefallen. Ein Freund von damals, als ich noch auf dem Hausboot gelebt habe, hat ein kleines Segelboot im Yachthafen liegen. Er würde uns bestimmt helfen, dass wir die Übergabe vom Wasser aus beobachten können. Was hältst du davon?“

„Ich würde sagen, frag ihn. Je mehr Augen wir unbemerkt auf die Übergabe richten können, desto besser.“

Keri kontaktierte ihren Freund, einen in die Jahre gekommenen Seemann namens Butch. Eigentlich war er nicht direkt ihr Freund, eher ein Saufkumpane, der den Scotch ebenso liebte wie sie selbst. Nachdem sie Evie, ihren Mann und ihren Job verloren hatte, hatte sie ein altes Hausboot gekauft, auf dem sie mehrere Jahre gelebt hatte.

Butch war ein netter ehemaliger Marinesoldat, der sie immer „Copper“ nannte und nie Fragen über ihre Vergangenheit stellte. Lieber gab er Geschichten von seiner Zeit auf See zum Besten. Damals war er genau die richtige Gesellschaft für sie gewesen, aber seit sie vom Hausboot in ein Appartment gezogen war und ihren Alkoholkonsum beträchtlich reduziert hatte, haben sie sich kaum mehr gesehen.

Das schien er ihr jedoch nicht übel genommen zu haben, denn er antwortete sofort auf ihre SMS: „Kein Problem. Bis gleich, Copper.“

„Alles klar“, teilte sie Ray mit. Dann war sie wieder still und dachte nach. Nach einer Weile unterbrach Ray die Stille.

„Woran denkst du, Keri?“, fragte er. „Ich habe den Verdacht, dass der Fall dir keine Ruhe lässt.“

Wieder einmal war Keri erstaunt, wie gut er sie kannte.

„Die Lösegeldübergabe. Irgendetwas stört mich daran. Warum hat er – angenommen es ist ein Er – uns so früh mitgeteilt, wo er sich treffen will? Er muss doch wenigstens vermuten, dass die Raineys sich an die Polizei wenden, und dass wir genau das tun würden, was wir jetzt gerade tun: Den Park weiträumig überwachen, unsere Männer positionieren, den Zugriff planen. Warum sollte er das Risiko eingehen? Es ergibt Sinn, die Summe so bald zu nennen, schließlich muss das Geld organisiert werden. Aber wenn ich so eine Summe erpressen würde, würde ich doch erst zehn Minuten vorher anrufen und Zeit und Ort mitteilen.“

„Ein logischer Gedankengang. Das unterstützt deine Theorie, dass er es gar nicht auf das Geld abgesehen hat.“

„Ich würde es mir wirklich nicht wünschen, aber genau das ist meine Sorge“, sagte sie.

„Worum, glaubst du, geht es ihm dann?“, fragte Ray.

Genau darüber hatte Keri nachgedacht und jetzt war sie fas erleichtert, es mit Ray besprechen zu können.

„Ich glaube, dass der Täter auf Jessica fixiert ist. Ich glaube, dass er sie kennt, oder ihr zumindest begegnet ist. Vielleicht hat er sie beobachtet.“

„Das würde passen. Alles deutet darauf hin, dass er die Tat schon seit einer Weile plant.“

„Genau. Zum Beispiel, dass er diese Spezial-Sonnenbrille bei FedEx benutzt hat; dass er wusste, wo die Kameras installiert sind und dass er sie an einer Stelle abgepasst hat, an der man sie von der Schule aus nicht mehr und ihre Mutter sie noch nicht sehen konnte und niemand in der ganzen Straße Überwachungskameras im Einsatz hatte. Das alles braucht Vorbereitung und Zeit.“

„Das ergibt Sinn. Aber wer könnte es sein? Der Sicherheitsangestellte hat sämtliches Personal überprüft. Und ich habe die Lehrer noch einmal auf dem Revier ins System eingegeben. Nichts, außer vielleicht ein paar Strafzettel für Falschparken.“

„Hast du auch Hausmeister und Busfahrer gecheckt?“

„Die sind zwar nicht von der Schule angestellt, aber jeder, der mit den Kindern in Kontakt kommt, muss ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Wir können die Liste noch einmal durchgehen, aber der Sicherheitsmann hat ziemlich gründlich gearbeitet.“

„Na gut, was ist mit den Geschäften, die auf Jessicas Heimweg liegen? Oder gibt es vielleicht eine Baustelle mit Bauarbeitern in der Nähe ihres Hauses? Es muss jemand sein, der sie regelmäßig sieht, mit ihrer Alltagsroutine vertraut ist und womöglich schon auffällig geworden ist.“

„Das sind mögliche Spuren, denen wir morgen früh nachgehen können, aber ich hoffe immer noch, dass wir ihn heute Nacht schnappen.“

Sie erreichten das Haus der Raineys und sahen einen Streifenwagen direkt davor stehen, obwohl sie angeordnet hatten, dass er in einiger Entfernung geparkt wird, fГјr den Fall dass der EntfГјhrer hier vorbeikam. Sie stiegen aus und klopften an die TГјr. Ein Officer Г¶ffnete ihnen und sie traten ein.

„Wie geht es den Raineys?“, fragte Ray leise.

„Die Mutter ist die meiste Zeit mit dem Jungen oben und versucht ihn abzulenken“, berichtete der Officer.

„Den Jungen und sich selbst“, ergänzte Keri leise.

„Der Vater war die meiste Zeit still. Er sieht sich schon seit Stunden den Park auf Google Maps an. Er hat uns ein paar Fragen zur Polizeiüberwachung gestellt, die wir größtenteils nicht beantworten können.“

„Okay, danke“, sagte Ray. „Vielleicht können wir weiterhelfen.“

Tim Rainey saГџ, wie der Polizist beschrieben hatte, mit seinem Laptop am KГјchentisch und sah sich den Burton Chace Park von oben an.

„Mr. Rainey“, sagte Keri, „man hat uns gesagt, dass Sie ein paar Fragen haben.“

Rainey blickte kurz auf, schien sie aber kaum wahrzunehmen. Dann nickte er.

„Ziemlich viele sogar.“

„Schießen Sie los“, sagte Ray.

„Im Brief stand keine Polizei. Wie wollen Sie es schaffen, nicht bemerkt zu werden?“

„Wir haben überall im Park Überwachungskameras versteckt“, erklärte Ray. „Die Kollegen werden also alles von einem Van aus beobachten. Außerdem gibt es im Chace Park einige Obdachlose. Wir haben einen Officer entsprechend getarnt. Sie ist seit Stunden dort, damit die anderen keinen Verdacht schöpfen. Wir haben ein paar Männer im Windjammers Yacht Club positioniert, sie werden von einem Zimmer im zweiten Stock aus alles beobachten. Einer davon ist ein Scharfschütze.“

Keri sah, wie Tim Raineys Augen groГџ wurden, aber er sagte nichts. Ray fuhr fort.

Eine Drohne steht bereit, aber wir werden ihn nur einsetzen, wenn es wirklich nötig ist. Er ist fast lautlos und hat eine Reichweite von bis zu hundertfünfzig Meter. Insgesamt sind über zehn Beamte im Einsatz. Sie werden zwar nicht direkt vor Ort sein, können aber in weniger als einer Minute dort sein, wenn irgendetwas schief geht. Das gilt auch für Detective Locke und ich. Wir werden vom Wasser aus alles überwachen, weit genug entfernt um nicht aufzufallen, aber nah genug um mit einem Fernglas guten Sichtkontakt halten zu können. Wir haben uns so gut vorbereitet wie möglich.“

„Das merke ich. Was genau muss ich also tun?“

„Gut, dass Sie fragen. Deswegen sind wir hier. Da Sie bereits die Karte vor sich haben, können wir jetzt sofort alles durchgehen“, sagte Ray.

Sie nehmen rechts und links neben Rainey Platz. Dann ergriff Keri das Wort.

„Sie sollen ihn auf der Brücke zwischen den Pergolas im hinteren Teil des Parks am Wasser treffen. Genau das werden Sie auch tun“, sagte sie. „Offiziell hat der Park nachts geschlossen. Sie können also nicht auf dem eingezäunten Parkplatz hier parken. Wahrscheinlich hat er die Übergabe auf Mitternacht gelegt, damit dort keine Autos stehen. Sie parken am besten im Parkhaus einen Block weiter. Wir geben Ihnen das passende Kleingeld. Sie stellen Ihr Auto ab, zahlen und gehen zum Treffpunkt. Alles klar soweit?“

„Ja“, sagte Rainey. „Wann bekomme ich das Lösegeld?“

„Sie holen es am Waterside Shopping Center in der Nähe des Parks ab.“

„Und wenn der Kidnapper mich beobachtet?“

„Ihr Chef wird Ihnen das Geld persönlich überreichen, direkt bei den Geldautomaten der Amerikanischen Nationalbank. Einer unserer Detectives bereitet ihn auf alles vor. Auch dort werden Sie ein paar Kollegen verdeckt beobachten, falls er versucht, dort an das Geld zu kommen.“

„Ist das Geld mit einem Peilsender ausgestattet?“

„Ja“, gab Ray zu, „und die Tasche auch. Aber die Geräte sind sehr klein. Der eine wird in die Naht der Tasche eingearbeitet. Ein paar weitere Sender sind mit durchsichtigen Aufklebern auf einzelnen Scheinen angebracht. Selbst wenn man einen Schein mit einem Sender in der Hand hält, ist es sehr schwer, ihn zu entdecken.“

Keri wusste, warum Ray die Frage beantwortet hat. Raineys wütender Blick sagte ihr, dass er nicht besonders glücklich darüber war. Wahrscheinlich dachte er, dass die Sender Jessica in Gefahr bringen könnten.

Ray hatte ihn darГјber informiert, damit sein Vertrauen zu Keri nicht verletzt wurde. Keri nickte ihrem Partner dankbar zu. Rainey schien das nicht zu bemerken. Was Ray ihm soeben mitgeteilt hatte, hatte ihm offensichtlich nicht gefallen, aber er versuchte auch nicht, sich dagegen zu wehren.

„Was mache ich dann?“, fragte er Keri. Ray würdigte er keines Blickes mehr.

„Wie ich schon sagte, sobald Sie das Lösegeld haben, fahren Sie ins Parkhaus und gehen direkt zu der Brücke in Chace Park. Denken Sie immer daran, unsere Officers sind bei Ihnen, auch wenn Sie sie nicht sehen. Machen Sie sich keine Sorgen, konzentrieren Sie sich nur auf die Brücke und das Geld.“

„Was passiert, wenn er kommt?“, fragte Rainey weiter.

„Sie fragen nach ihrer Tochter. Er soll schließlich denken, dass Sie alleine sind. Es wäre also merkwürdig, wenn Sie ihm ohne jede Gegenwehr das Geld geben. Wahrscheinlich würde er Verdacht schöpfen. Ich bezweifle, dass er sie mitbringen wird, aber er wird Ihnen wahrscheinlich sagen, wo er sie versteckt hat. Vielleicht sagt er auch, dass er Ihnen das Versteck mitteilt, wenn er in sicherer Entfernung ist.“

„Sie wird nicht im Park sein?“, fragte Rainey erstaunt.

„Es würde mich sehr überraschen. Damit würde er sein einziges Druckmittel riskieren. Für ihn ist es sicherer, wenn sie weiterhin um Jessicas Sicherheit fürchten. Rechnen Sie also am besten damit, dass sie nicht dort sein wird.“

„Ich verstehe. Und dann? Wie geht es dann weiter?“

„Nachdem Sie also mit der Übergabe gezögert und nach Jessica gefragt haben, geben Sie ihm die Tasche. Versuchen Sie nicht mit ihm zu verhandeln. Versuchen Sie nicht, ihn zu überwältigen. Er wird vermutlich ebenso nervös sein wie Sie. Wir wollen keine Konfrontation.“

Tim Rainey nickte zögernd. Keri gefiel diese Reaktion nicht. Sie beschloss, es noch einmal nachdrücklicher zu formulieren.

„Mr. Rainey, Sie müssen mir versprechen, dass Sie keine Dummheiten machen. unsere beste Chance ist, dass er Ihnen Jessicas Aufenthaltsort verrät, oder dass er uns nach dem Treffen zu ihr führt. Bleiben Sie ruhig, auch wenn er Ihnen nichts sagt. Wir werden ihn mit den Sendern verfolgen und wir werden ihn festnehmen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Wenn Sie auf eigene Faust vorgehen, könnte es für Sie und auch für Jessica sehr gefährlich werden. Haben Sie mich verstanden, Sir?“

„Ja. Ich verspreche, dass ich nichts tun werde, das Jessica in Gefahr bringen könnte.“

„Gut, dann bin ich beruhigt“, sagte Keri, obwohl sie immer noch ihre Zweifel hatte. „Sie übergeben die Tasche, gehen zurück zu Ihrem Wagen und kommen wieder hierher. Um alles andere kümmern wir uns. Okay?“

„Werden Sie ein Abhörgerät an mir befestigen?“, fragte er und Keri fiel sofort auf, dass er ihre Anordnung nicht bestätigt hatte.

„Ja, das werden wir“, mischte Ray sich wieder ein. „Ein Abhörgerät und eine kleine Kamera. Aber keine Sorge, beides wird nicht zu sehen sein, besonders bei Nacht. Die Kamera wird uns helfen, ihn zu identifizieren und über das Audio wissen wir, wenn Sie in Gefahr sind.“

„Können wir kommunizieren?“

„Nein“, sagte Ray. „Also, wir werden Sie hören können, aber es wäre zu riskant, Ihnen einen Empfänger ins Ohr zu stecken. Den könnte der Entführer nämlich sehen. Außerdem wollen wir, dass Sie sich ganz und gar auf Ihre Aufgabe konzentrieren.“

„Eine Sache noch“, sagte Keri. „Es besteht die Chance, dass er nicht kommt. Vielleicht ist es im in letzter Minute doch zu riskant, vielleicht hatte er nie vor zu kommen. Bereiten Sie sich innerlich auf darauf vor.“

„Glauben Sie das denn?“, fragte Rainey. Er selbst hatte darüber offenbar noch nicht nachgedacht.

Keri wollte ihm eine ehrliche Antwort geben.

„Ich weiß nicht, was passieren wird, aber bald finden wir es heraus.“




KAPITEL SIEBEN


Keri fühlte sich, als müsse sie sich übergeben. Es war beinahe zum Lachen. Sie hatte so lange auf einem Hausboot gelebt, aber jetzt, als sie auf offenem Wasser trieb und durch ein Fernrohr sah, bekam ihr das Schaukeln plötzlich gar nicht.

Butch hatte vorgeschlagen nahe des Ufers zu ankern, aber Keri und Ray fürchteten, dass das zu auffällig wäre. Natürlich war es nicht viel besser, parallel zum Ufer auf und ab zu segeln, also hatte Butch schließlich Kurs auf eine Anlegestelle gehalten, von der aus man immer noch gute Sicht hatte, aber aufgrund der anderen Boote weniger auffiel. Keri, die nur mit Mühe ihre Übelkeit in Schach hielt, fand den Vorschlag ausgezeichnet. Sie fanden eine freie Stelle und verhielten sich ruhig, bis es langsam auf Mitternacht zuging. Der kalte Winterwind blies über das Boot hinweg. Keri saß auf einer schmalen Bank am Fenster und hörte, wie das Wasser gegen den Bug wusch. Sie versuchte, mit den Wellen im Takt zu atmen und spürte, wie sich der Knoten in ihrem Magen langsam löste und der Schweiß auf ihrer Stirn trocknete.

Es war 11:57 Uhr. Keri schaute durch das Fernglas in den Park. Ray, der nur einen Meter weiter saГџ, tat das Gleiche.

„Und? Gibt es schon etwas zu sehen?“, fragte Butch. Er fand es spannend bei einer verdeckten Polizeioperation mitzumachen und das merkte man ihm an. Für ihn war es vermutlich der spannendste Abend seit Jahren.

Er war genau, wie sie ihn in Erinnerung hatte: Vom Wetter gezeichnete Haut, ein wilder weißer Haarschopf und ein unterschwelliger Geruch von Whiskey. Unter normalen Umständen wäre es verboten, in diesem Zustand ein Boot zu führen, aber die Umstände waren nicht normal.

„Leider wird meine Sicht von ein paar Bäumen beeinträchtigt“, flüsterte sie. „Außerdem ist es schwierig durch das Fenster zu sehen, obwohl die Lichter aus sind.“

„Gegen die Bäume kann ich nichts tun, aber die Fenster lassen sich zur Seite schieben“, sagte Butch.

„Das wusste ich nicht. Danke“, sagte Keri.

„Wie lange hast du auf einem Boot gelebt?“, fragte Ray.

Keri, die erleichtert feststellte, dass er sie wieder neckte, streckte ihm die Zunge heraus. „Scheinbar nicht lang genug“, sagte sie dann.

Eine Stimme ertönte aus dem Funkgerät und unterbrach die lockere Stimmung. Es war Lieutenant Hillman.

„Einheit eins an alle Einheiten. Fracht wurde übernommen, Fahrzeug geparkt und der Bote ist jetzt unterwegs zum Ziel.“

Hillman war einer der Männer, die sich im zweiten Stockwerk des Windjammers Club bereithielten. Von dort hatte er den ganzen Park im Blick, auch die Brücke. Er verwendete zuvor abgesprochene Ausdrücke, um nicht zu viele Informationen über Funk preiszugeben. Immer wieder kam es vor, dass Zivilisten den Polizeifunk abhörten. Rainey war der Bote, die Tasche mit dem Lösegeld war die Fracht und die Brücke das Ziel. Den Kidnapper würden sie nur als das Subjekt bezeichnen und Jessica war der Tauschwert.

„Hier Einheit vier. Haben Blickkontakt mit Ziel“, sagte Keri, als sie endlich einen guten Winkel gefunden hatte, von dem aus sie freie Sicht auf die Brücke hatte. „Niemand zu sehen.“

„Hier Einheit Zwei“, meldete sich Officer Jamie Castillo, die als Obdachlose getarnt im Park saß. „Der Bote ist soeben an mir vorbeigekommen. Ansonsten sehe ich nur zwei obdachlose Personen, die schon den ganzen Nachmittag hier waren. Sie scheinen zu schlafen.“

„Am besten beide im Auge behalten, Einheit Zwei“, sagte Hillman. „Wir haben keine Ahnung vom Subjekt. Alles wäre denkbar.“

„Verstanden, Einheit Eins.“

„Ich hoffe, Sie können mich hören“, flüsterte Tim Rainey nervös in sein Mikrofon. „Ich bin im Park und gehe jetzt auf die Brücke zu.“

Ray rutschte unruhig hin und her. „Hoffentlich kommentiert er nicht die ganze verdammte Übergabe.“

„Er ist nervös, Ray. Das ist doch verständlich“, beschwichtigte Keri ihn.

„An alle Einheiten, hier spricht das Hauptquartier“, meldete sich Manny Suarez aus dem Van, der auf dem Parkplatz des Shopping Centers geparkt war. „Wir haben alles im Blick, aber abgesehen von unserem Boten ist keine Bewegung auszumachen. Noch etwa zwanzig Meter bis zum Ziel.“

Keri sah auf die Uhr. 23:59 Uhr. In der Ferne hörte sie ein Motorboot im Yachthafen starten. Ein paar Seerobben, die sich tagsüber auf den Felsen sonnten, raunten in der Dunkelheit. Wind, Wellen. Ansonsten war alles still.

„Bewegung am Mindanao Way in Richtung Park gesichtet“, ertönte eine aufgeregte Stimme, die Keri nicht bekannt vorkam.

„Identifizieren Sie Ihre Einheit“, bellte Hillman, „keine Namen!“

„Entschuldigen Sie, hier spricht Einheit Drei. Ein Fahrzeug nähert sich dem Park… Scheinbar ein Motorrad.“

Jetzt wusste Keri, wer sprach – Officer Roger Gentry. West LA war keine besonders große Division des LAPD und da sie um diese Uhrzeit nicht genügend beamte zur Verfügung hatten, hatte Hillman jeden verfügbaren Officer hinzugezogen, einschließlich Gentry. Er war jung und seit weniger als einem Jahr bei der Polizei. Er hatte etwa zur gleichen Zeit wie Castillo angefangen, aber er schien um einiges unsicherer zu sein.

„Kann das jemand bestätigen?“, fragte Hillman.

„Hören Sie das?“, fragte Tim Rainey aufgeregt, als hätte er vergessen, dass sie ihm nicht antworten können. „Da kommt jemand.“

„Hier Einheit Zwei“, sagte Castillo von ihrer Position im Park. „Ich habe Sichtkontakt. Es ist ein Motorrad. Kleines Modell, ich glaube eine Honda. Nur ein Fahrer. Es ist soeben in den Park eingebogen und fährt jetzt den Fahrradweg entlang auf das Ziel zu.“

Keri konnte das Motorrad jetzt auch sehen. Es folgte dem Fahrradweh, der direkt am Ufer entlang führte. Sie sah zu Tim Rainey, der jetzt völlig erstarrt mitten auf der Brücke stand und mit der rechten Hand die Tasche umklammert hielt.

„Hier Einheit Eins“, meldete sich Hillman wieder. „Wir haben das Subjekt im Visier und sind bereit einzugreifen.“

„Hier Einheit Vier“, meldete Ray sich zu Wort. „Haben Sichtkontakt. Das Motorrad fährt mit etwa fünfzig km/h am Ufer entlang, biegt jetzt rechts ab in nördlicher Richtung zum Ziel.“

„Ich glaube es ist ein Motorrad“, sagte Tim Rainey. „Kann irgendjemand sehen, wer es ist? Ist es der Kidnapper? Hat er Jessi?“

„Hier wieder Einheit Eins“, sagte Hillman, ohne auf Raineys Fragen einzugehen. „Einheit Vier, könnte Ihr sehen ob das Subjekt bewaffnet ist?“

„Feuer bereit“, hörten sie leise den Scharfschützen neben Hillman sagen.

„Hier Einheit Vier“, sagte Ray. „Keine Waffen zu sehen, aber die Dunkelheit und die Geschwindigkeit des Fahrzeugs lassen keine genauen Aussagen zu.“

Keri beobachtete, wie das Motorrad plötzlich bremste und sich schwungvoll mehrfach um sich selbst drehte. Sobald der Vorderreifen wieder griff, gab der Fahrer Gas und raste wieder in die Richtung, aus der es gekommen war.

„hier Einheit Vier“, sagte sie schnell, „Nicht schießen. Ich wiederhole, nicht schießen. Ich glaube es handelt sich nicht um das Subjekt sondern um einen Möchtegern-Stuntman.“

„Nicht schießen“,  wiederholte Hillman.

Und tatsächlich drehte das Motorrad noch eine Runde, fuhr ein paar Tricks und verschwand dann wieder auf derselben Straße, auf der es gekommen war.

„Hier Einheit Eins. Hat jemand Sichtkontakt mit dem Boten?“, fragte Hillman.

„Hier Einheit Vier“, meldete sich Keri. „Der Bote steht nach wie vor in Position. Er sieht verunsichert aus. Wie soll es jetzt weitergehen?“

„Am besten alle in Position bleiben. Das kann nur eine Ablenkung gewesen sein“, entgegnete Hillman.

„Kommt mich jemand holen?“, fragte Rainey, „oder soll ich hier stehen bleiben? Ich bleibe wohl einfach hier, solange mir nichts anderes gesagt wird.“

„Oh Mann, ich wünschte er würde endlich die Klappe halten“, murmelte Ray. Er hatte mit der Hand das Mikrofon verdeckt, sodass nur Keri und Butch ihn hören konnten. Keri sagte nichts.

Nach weiteren zehn Minuten sah Keri, wie Rainey, der immer noch auf der BrГјcke stand, auf sein Handy sah.

„Könnt ihr mich hören?“, sagte er aufgeregt. „Ich habe eine Nachricht bekommen: Sie haben mein Vertrauen missbraucht und die Polizei eingeschalten. Damit haben Sie die Gelegenheit verspielt, das Kind einzutauschen. Jetzt muss ich entscheiden, ob ich den bösen Geist selbst austreibe oder ob ich Ihnen den Ungehorsam vergebe und noch eine letzte Chance gewähre, ihre Seele zu reinigen. Ihr Schicksal lag in Ihren Händen. Jetzt liegt es in meinen. Er wusste, dass die Polizei hier ist. Die ganzen Vorbereitungen waren für die Katz. Vielleicht meldet er sich nie wieder bei mir! Sie haben meine Tochter auf dem Gewissen!“

Bei diesem letzten Satz war seine Stimme zu einem schrillen Kreischen angeschwollen. Keri hörte ihn bis hinüber zur Anlegestelle und sah, wie er auf die Knie sank, die Tasche fallen ließ und die Hände vors Gesicht schlug. Sie konnte seinen Schmerz förmlich spüren.

Über die Abhörgeräte hörte sie das verzweifelte Schluchzen eines Vaters, der seine Tochter für immer verloren glaubte. Keri kannte dieses Schluchzen, weil sie selbst eins so geschluchzt hatte. Damals hatte sie begriffen, dass ihre Tochter verschwunden war und niemand etwas dagegen tun konnte.

Keri stГјrzte aus der Kabine und schaffte es gerade noch an Deck, bevor sie sich ins Meer erbrach.




KAPITEL ACHT


Jessica Rainey bewegte ihre tauben Finger. Ihre Hände hatte man ihr hinter dem Rücken an eine Rohrleitung gefesselt. Sie saß auf dem harten, kalten Beton. Die einzige Lichtquelle war eine fluoreszierende Glühbirne, die an einem Kabel von der Decke hing und nervös flackerte.

Jessica wusste nicht, wie lange sie schon an diesem Ort war, aber sie war sicher, dass es bereits Nacht war, weil kein Tageslicht mehr durch die Ritzen der Wand fielen.




Конец ознакомительного фрагмента.


Текст предоставлен ООО «ЛитРес».

Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию (https://www.litres.ru/pages/biblio_book/?art=43692935) на ЛитРес.

Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.



Если текст книги отсутствует, перейдите по ссылке

Возможные причины отсутствия книги:
1. Книга снята с продаж по просьбе правообладателя
2. Книга ещё не поступила в продажу и пока недоступна для чтения

Навигация